VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 04.11.2016 - 1 A 3310/16 - asyl.net: M24990
https://www.asyl.net/rsdb/M24990
Leitsatz:

1. Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO bereits als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist.

2. Bei der durch die Ausländerbehörde erfolgenden Anzeige eines Asylgesuchs gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge handelt es sich um ein behördliches Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Asylgesuch, Asylantrag, Ausländerbehörde, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, behördliches Protokoll
Normen: VO 604/2013 Art. 20 Abs. 2, AsylG § 14
Auszüge:

[...]

Lässt sich anhand der Kriterien der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, ist danach der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Dies ist hier nicht das Königreich Schweden, weil es sich bei dem am 5. November 2015 dort gestellten Asylantrag nicht um den ersten von den Klägern gestellten Antrag auf internationalen Schutz handelt.

Zwar haben die Kläger in der Bundesrepublik Deutschland zuvor – am 26. Oktober 2015 – gegenüber der Ausländerbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg lediglich um Asyl nachgesucht und erst – nachdem sie am 5. November 2015 in Schweden einen Asylantrag gestellt hatten – am 11. März 2016 förmlich einen Asylantrag im Sinne von § 14 AsylG gestellt. Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO jedoch bereits als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Dies ist hier hinsichtlich des in der Bundesrepublik Deutschland angebrachten Asylgesuchs bereits am 29. Oktober 2015 geschehen.

Aus den Ausländerakten der Kläger geht hervor, dass die Freie und Hansestadt Hamburg ihr Asylgesuch mit E-Mail vom 29. Oktober 2015 gegenüber der Beklagten angezeigt hat (Bl. 3 der Ausländerakte 15102800853). Auch wenn sich diese Anzeige nicht in den vorgelegten Asylakten findet, ist davon auszugehen, dass sie der Beklagten zugegangen ist, da sie mit Schreiben vom 29. Oktober 2015, das am selben Tag bei der Freien und Hansestadt Hamburg eingegangenen ist, im Asylverfahren der Kläger einen Termin zur erkennungsdienstlichen Behandlung und Aktenanlage für den 11. März 2016 anberaumt hat. Ebenfalls am 29. Oktober 2015 stellte die Freie und Hansestadt Hamburg den Klägern eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende aus.

Bei der durch die Ausländerbehörde erfolgten Anzeige des Asylgesuchs gegenüber der Beklagten handelt es sich um ein behördliches Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO. Dies verdeutlicht die vergleichbare Regelung zur fingierten förmlichen Antragstellung in der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.6.2013, 60 ff.; im Folgenden: Verfahrensrichtlinie). Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt nach der Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO im Wesentlichen entsprechenden Regelung in Art. 6 Abs. 4 der Verfahrensrichtlinie als förmlich gestellt, sobald der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist. Bei einem behördlichen Protokoll im Sinne dieser Vorschriften handelt es sich um ein Dokument, aus dem sich die Stellung eines Asylgesuchs ergibt und das nicht von der für die Bearbeitung des Asylantrages zuständigen, sondern von einer anderen Behörde stammt, bei der Asylgesuche typischerweise angebracht werden. Als solche nennt die Verfahrensrichtlinie die Polizei, Grenzschutz- und Einwanderungsbehörden sowie das Personal von Gewahrsamseinrichtungen (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 der Verfahrensrichtlinie). Hierzu gehören in der Bundesrepublik Deutschland auch die Ausländerbehörden, die die Beklagte nach § 20 Abs. 2 Satz 2 AsylG über die Stellung eines Asylgesuchs zu unterrichten haben.

cc) Die Kläger können sich auch auf die fehlerfreie Anwendung der Dublin III-VO berufen.

Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union können Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über ihre Überstellung die fehlerhafte Anwendung der in der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriterien geltend machen. Der Unionsgesetzgeber hat sich nicht darauf beschränkt, in der Dublin III-VO organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern sich dafür entschieden, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet hat, die Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben, und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zu gewährleisten. Letzteres ergibt sich aus Art. 27 Abs. 1 der Dublin III-VO, wonach Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht haben. Hierzu gehört nach dem 19. Erwägungsgrund der Dublin III-VO insbesondere die Kontrolle der fehlerfreien Anwendung der Dublin III-VO (EuGH, Urt. v. 7.6.2016, C-63/15, juris, Tenor sowie Rn. 51 und 44). [...]