LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.03.2017 - L 18 AS 526/17 B ER - asyl.net: M25031
https://www.asyl.net/rsdb/M25031
Leitsatz:

Vorläufige Leistungen im einstweiligen Rechtsschutz:

1. Kein Leistungsausschluss für eine italienische Staatsbürgerin und ihre Tochter, da für sie das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) gilt.

2. Die Mutter ist als Arbeitssuchende nach § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1a FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt und hat zudem aufgrund des Schulbesuchs ihrer Tochter ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Wanderarbeitnehmer-VO (492/2011/EU).

3. Wenn zwischen mehreren Trägern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, sind vorläufige Leistungen vom unzuständigen Träger zu erbringen, wenn sie beantragt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: SGB II, Leistungsausschluss, Europäisches Fürsorgeabkommen, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürger, Sozialhilfe, Sozialrecht, Zuständigkeit, Sozialhilfeträger, Träger, effektiver Rechtsschutz, SGB XII, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Wanderarbeitnehmer, Wanderarbeitnehmerverordnung,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 S.1 Nr. 1a, VO 492/2011 Art. 10, SGB I § 43 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Es bestehen sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund für die vom SG getroffene Regelungsanordnung i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG, wobei hier keiner abschließenden Klärung bedarf, ob sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche, sondern auch aus anderen Gründen ergibt, und damit der - insoweit wirksame (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteile vom 3. Dezember 2015 - 8 4 AS 59/13 R u.a. - juris) - Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b bzw. 2c Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) nicht zum Tragen käme. Denn selbst bei Eingreifen eines SGB II-Leistungsausschlusses besteht jedenfalls ein Anspruch der Antragstellerinnen, die die italienische Staatsbürgerschaft besitzen, auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Die Bundesregierung hat bezogen auf die Vorschriften der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII keinen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) erklärt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 59/13 R - juris - Rn. 20). Voraussetzung für die Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen nach Art. 1 EFA ist ein erlaubter Aufenthalt der Antragstellerinnen im Bundesgebiet, hier im Sinne einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) oder einem anderen Aufenthaltsrecht (vgl. Art. 11 EFA; BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1982 - 1 C 136.80 - juris Rn. 20). Die Antragstellerin zu 1) genießt jedenfalls eine Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitsuchende i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a FreizügG/EU (vgl. BSG, Urteile vom 3. Dezember 2015 - 8 4 AS 59/13 R - aaO Rn 21, 25 sowie vom 20. Januar 2016 - B 4 AS 15/15 R - juris - Rn 30), zudem aufgrund des Schulbesuchs der Antragstellerin zu 2) gemäß Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/11, geändert durch die Verordnung (EU) 2016/589.

Schließlich ist auch darauf zu verweisen, dass das BSG in der zitierten Rspr., der das Beschwerdegericht folgt, unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einen Anspruch von Betroffenen, wie der Antragstellerinnen, auf Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, d.h. unmittelbar kraft Verfassungsrechts, bekräftigt. Dies gilt unverändert auch in Ansehung der seit 29. Dezember 2016 erfolgten gesetzlichen Neuregelung, die sich ebenfalls am Grundgesetz messen lassen muss.

Der Antragsgegner ist zwar für die Erbringung von SGB XII-Leistungen nicht zuständig, zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerade bei Leistungen der Existenzsicherung ist vorliegend aber auf die Wertung des § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) zurückzugreifen. Danach sind, wenn zwischen mehreren Trägem streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, vorläufige Leistungen vom unzuständigen Träger zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt. Dies rechtfertigt zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, der bei einer Beiladung und Äußerungsmöglichkeit des Sozialhilfeträgers allein aus zeitlichen Gründen letztlich nicht zu gewährleisten wäre, die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners. Dieser ist, sollte sich im Hauptsacheverfahren im Ergebnis ein SGB II-Leistungsausschluss ergeben, dann insoweit auf einen Erstattungsanspruch gegenüber dem SGB XII-Träger zu verweisen, zumal er den Leistungsantrag augenscheinlich auch nicht weitergeleitet hat. [...]