VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 03.04.2017 - 5a K 9089/16.A - asyl.net: M25038
https://www.asyl.net/rsdb/M25038
Leitsatz:

1. Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (bei im Übrigen zurückgenommener Klage) wegen Gefahr der Zwangsverheiratung einer jungen Frau durch ihren Vater in Albanien.

2. Geschlechtsspezifische Gewalt wird als schwerwiegendes mit der patriarchalischen Kultur Albaniens verbundenes Problem anerkannt, wobei effektiver staatlicher Schutz nicht gewährleistet wird (unter Berufung auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes von 2016 und einem Bericht von Amnesty International von 2016).

3. Bedrohte Frauen unterliegen auch nach Flucht in einen anderen Landesteil regelmäßig weiterhin dem Risiko, aufgespürt zu werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Albanien, Zwangsehe, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage ist zulässig und begründet. Die Versagung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da die Klägerin einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur diesbezüglichen Feststellung hat, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. [...]

Die Klägerin hat in ohne Weiteres nachvollziehbarer Weise geschildert, wie sie sich dem Ansinnen ihres Vaters, die Ehe mit einem von ihrem Vater bestimmten jungen Mann zu schließen, verweigert hat, wie sie in dem von überkommenen Vorstellungen verhafteten Umfeld Schutz zu finden vergeblich versucht hat (angefangen bei ihrer Mutter), dass es aufgrund der Kontakte ihrer Familie und der übrigen Familien ihres Heimatdorfes auf der Hand liegt, dass sie bei einer Rückkehr nach Albanien alsbald gefunden und entsprechend den in ihrem Heimatdorf bestehenden Vorstellungen zur Rolle der Frau eine Behandlung zu gewärtigen hat, die weder auf die Freiheit noch die körperliche Unversehrtheit der Klägerin Rücksicht nimmt. Dies ergibt sich vor allem aus den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, an denen das Gericht aufgrund des persönlichen Eindrucks, den es von der Klägerin gewonnen hat, keinen Zweifel hegt; diese werden bestätigt durch die Angaben der Klägerin in ihrer Anhörung gegenüber dem Bundesamt. […]

Zwar sind zum Schutz von Frauen insbesondere auf normativer Ebene in Albanien Verbesserungen zu konstatieren. Geschlechtsspezifische Gewalt wird als schwerwiegendes mit der patriarchalischen Kultur Albaniens verbundenes Problem anerkannt. Seit 2006 existiert ein Gesetz zum Schutz häuslicher Gewalt, in dem verfahrens- und strafrechtliche Konsequenzen definiert werden. Zugleich hat die Regierung eine nationale Strategie gegen häusliche Gewalt und für Gleichberechtigung herausgearbeitet und speziell ausgebildete Polizei- und Justizeinheiten aufgestellt, teilweise finanziert und durch ausländische Geber. Allerdings sind schon die gesetzlichen Voraussetzungen nach wie vor lückenhaft. [...]

Für die Frage der hier maßgeblichen Gefahrenprognose sind allerdings nicht die gesetzlichen Voraussetzungen, auf die sich Betroffene theoretisch berufen könnten, maßgeblich, sondern die Frage, ob von diesen Voraussetzungen auch tatsächlich staatlicherseits Gebrauch gemacht wird. Insofern ist zu berücksichtigen: Albanien ist ein kleines Land, die verwandtschaftlichen und bekanntschaftlichen Beziehungen einzelner Personen und Familien erstrecken sich häufig über das gesamte Landesgebiet. Daher unterliegen bedrohte Frauen auch nach einer Flucht in einen anderen Landesteil regelmäßig weiterhin dem Risiko, vom Täter aufgespürt zu werden, selbst wenn sie Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden haben. Einem besonders hohen Risiko sind gerade die Frauen ausgesetzt, die von Personen mit Beziehungen zur Polizei oder anderen unmittelbar am Schutzsystem beteiligten Behörden bedroht werden. [...]

Auch Gewalt gegen Kinder ist in Albanien in weiten Bevölkerungsschichten verbreitet, das liegt an einem stark patriarchalen und archaischen Rollenverständnis, in dem die Rechte von Frauen und Kindern als nachrangig angesehen werden. [...]

Arrangierte Eheschließungen werden durch den Druck des sozialen Umfelds - vor allem im ländlichen Raum - erheblich begünstigt. Solche Eheschließungen sind in Albanien weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. Eine klare Abgrenzung zu Zwangsverheiratungen ist kaum möglich (vgl. Antwort der Bundesregierung, BT-Drucksache 18/10454, S. 16).

Die Situation von Frauen und Kindern ist also ersichtlich Teil der vom Auswärtigen Amt für die allgemeine politische Lage festgestellten "Kultur der Straflosigkeit und fehlender Implementierung von Regelwerken" (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht Im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylVfG (Stand: Mai 2016) vom 16. August 2016, Seite 5 [...], zuzuordnen.

Nach alledem sind in der Person der Klägerin die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt, da im Falle ihrer Rückkehr nach Albanien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Freiheitsberaubung und gegebenenfalls schwerster Verletzungen zu erwarten stünde, sobald der Vater der Klägerin von der Rückkehr der Klägerin erfährt. Dazu wird es auch aufgrund der Beziehungen der Bewohner des Heimatdorfes der Klägerin auch nach Tirana kommen. Aufgrund der geringen Größe Albaniens wird die Klägerin ihrer Familie nicht ausweichen können. Anhaltspunkte für einen im hier zu entscheidenden Fall effektiven staatlichen Schutz in Albanien sind der Auskunftslage gerade auch in Bezug auf den ländlichen Raum nicht zu entnehmen. [...]