VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.05.2017 - A 4 S 1001/17 - asyl.net: M25048
https://www.asyl.net/rsdb/M25048
Leitsatz:

Ablehnung des Berufungszulassungsantrags des BAMF, da sich die aufgeworfene Frage zweifelsfrei aus dem Gesetz ergibt:

1. Die Vorgabe in Art. 5 Abs. 3 Dublin-III-VO, dass das persönliche Gespräch im Dublin-Verfahren "zeitnah" erfolgen soll, ist keine starre Ausschlussfrist, deren Verletzung zur Aufhebung des Dublin-Bescheids führt. Das Gespräch kann nach dem Wortlaut der Norm auch noch kurz vor der Dublin-Entscheidung geführt werden.

2. Im Übrigen ist die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 5 Dublin-III-VO nach § 46 VwVfG wegen fehlender Relevanz stets unbeachtlich ist, nicht von grundsätzlicher Bedeutung, da die Vorgaben der Dublin-VO vorrangig sind und nicht durch nationales Verfahrensrecht eingeschränkt werden können.

3. Die Frage, ob sich Betroffene auf den Ablauf von Dublin-Fristen berufen können, ist im Übrigen hinreichend geklärt (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - C‑63/15, Ghezelbash gg. Niederlande, asyl.net: M23883, Asylmagazin 7/2016, S. 220 ff. mit Anm. und BVerwG, Urteil vom 09.08.2016 - 1 C 6.16 - asyl.net: M24188, Asylmagazin 12/2016 S. 425 ff.).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, persönliches Gespräch, Frist, Beschleunigungsgebot, Zeitnähe, Asylverfahrensdauer, Grundsätzliche Bedeutung, Ausschlussfrist, Dublin III-Verordnung, Vorrang, Unionsrecht, subjektives Recht,
Normen: VO 604/2013 Art. 5 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 5 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 5,
Auszüge:

[...]

III. Die Berufung kann nicht zugelassen werden, weil der Gesetzgeber im Asylprozessrecht keinen § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entsprechenden Zulassungsgrund der ernstlichen Richtigkeitszweifel mehr vorsieht, d.h. eine Zulassung selbst bei offenkundig falsch entschiedenen Rechtssachen ausscheidet, und es an einer Grundsatzbedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG fehlt, wenn sich die aufgeworfene Frage zweifelsfrei aus dem Gesetz beantworten lässt (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 78 AsylG Rn. 13, m.w.N.). In diesem Sinne fehlt es hier an einer Grundsatzbedeutung. Denn aus Art. 5 Abs. 3 Dublin III-VO ergibt sich zweifelsfrei, dass die dort geregelte Vorgabe der "Zeitnähe" keine starre Ausschlussfrist ist, deren Verletzung zur Aufhebung eines Dublin-Bescheides führen kann. [....]

Das Verwaltungsgericht, das die Klage unter Verstoß gegen den Dublin-Beschleunigungsgrundsatz (vgl. Hoppe, NVwZ 2016, 1160, m.w.N.) fast zwei Jahre lang unbearbeitet liegen gelassen hat, behandelt die Normvorgabe der "Zeitnähe" mithin im Sinne einer starren Ausschlussfrist, deren Verletzung den am Tag darauf ergangenen Dublin-Bescheid formell rechtswidrig macht. Wird Art. 5 Abs. 3 Dublin III-VO hingegen zu Ende gelesen, ergibt sich unmittelbar aus der Norm selbst, dass dies nicht richtig sein kann. Denn dort heißt es weiter, die Anhörung habe "in jedem Fall aber" zu erfolgen, "bevor über die Überstellung des Antragstellers … entschieden wird". Damit ist eindeutig, dass die Anhörung gegebenenfalls auch bis kurz vor Erlass des Dublin-Bescheides erfolgen kann.

3. Dieses Ergebnis wird durch einen Blick auf andere Sprachfassungen des Art. 5 Abs. 3 Dublin III-VO zweifelsfrei bestätigt. [...] Sowohl die Formulierung "in a timely manner" als auch die Formulierung "en temps utile" werden vor allem im Sinne von "rechtzeitig" bzw. "zu gegebener Zeit" verstanden (vgl. www.linguee.de). Auch hieraus lässt sich schlussfolgern, dass die deutsche VO-Übersetzung mit "zeitnah" nicht im Sinne einer starren Ausschlussfrist gemeint sein kann.

4. Dieses Ergebnis wird weiter durch die Normsystematik und die im Unionsrecht angezeigte Auslegung nach dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit ("effet utile") bestätigt. Im 18. Erwägungsgrund der Verordnung heißt es, das persönliche Gespräch solle geführt werden, "um die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern." In Art. 4 Abs. 1 lit. c Dublin III-VO ist geregelt, dass der Antragsteller nach Asylantragstellung (zunächst nur) zu informieren ist über das (spätere) persönliche Gespräch und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung in den Mitgliedstaaten zu machen. In Art. 5 Abs. 2 lit. b Dublin III-VO ist schließlich geregelt, dass auf das persönliche Gespräch u.a. verzichtet werden darf, wenn der Antragsteller "bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, so dass der zuständige Mitgliedstaat auf andere Weise bestimmt werden kann". Nach diesen Normen ist das persönliche Gespräch also keinesfalls Selbstzweck und dient auch nicht bloßer Förmelei. Es soll das Bundesamt vielmehr in die Lage versetzen, fehlerfrei den zuständigen Dublin-Staat zu bestimmen. Dies spricht erst recht gegen das Normverständnis einer starren Ausschlussfrist und für eine dahingehende Interpretation, das Gespräch erst möglichst kurz vor der Dublin-Entscheidung zu führen, damit eventuelle Änderungen etwa im familiären Bereich oder hinsichtlich von Krankheiten aktuell erfasst und berücksichtigt werden können. Dass ein persönliches Gespräch zweieinhalb Jahre nach dem Asylantrag in jedem Fall "zu spät" ist und den Bescheid gewissermaßen unheilbar rechtswidrig macht, ist jedenfalls nicht nur mit dem Wortlaut der Norm, sondern auch mit der Normsystematik und dem effet-utile-Grundsatz offenkundig unvereinbar.

IV. Auch die weiter im Einzelnen von der Beklagten aufgeworfenen Fragen lassen deshalb keine Zulassung der Berufung wegen Grundsatzbedeutung zu. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Die Frage, "ob ein Verstoß gegen Art. 5 Dublin III-VO nach § 46 VwVfG womöglich stets unbeachtlich ist", würde sich im Berufungsverfahren nicht als entscheidungserheblich stellen, weil die Verfahrensvorgaben des Art. 5 Dublin III-VO wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechtes grundsätzlich nicht durch nationales Verwaltungsverfahrensrecht eingeschränkt werden können. Die Frage, "ob sich ein Drittstaatsangehöriger auf eine Verletzung des Gebots zur Durchführung eines persönlichen Gesprächs im Sinne des Art. 5 Dublin III-VO überhaupt mit dem Argument berufen kann, dass dieses nicht mehr zeitnah zur Antragstellung erfolgt sei", ist bereits hinreichend geklärt. Denn der Europäische Gerichtshof hat in seinem "Ghezelbash"-Urteil vom 07.06.2016 in der Rs. C-63/15 (bestätigt in Rs. C-155/15 <Karim>) entschieden, dass der Abdullahi-Grundsatz, wonach der Ablauf von Dublin-Fristen nicht rügefähig ist, nicht auf die Dublin III-VO zu übertragen ist. Das Bundesverwaltungsgericht folgerte hieraus im Urteil vom 09.08.2016 (- 1 C 6.16 -, Juris Rn. 22), dass alle Fristenregelungen der Dublin III-VO nunmehr grundsätzlich individualschützend sind. Die Frage, "ob es für eine Rechtsverletzung im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO darauf ankommt, dass die Angaben aus dem persönlichen Gespräch zu einem anderen Ergebnis bei der Zuständigkeitsbestimmung führen würden", ist ebenfalls bereits hinreichend geklärt. Der Europäische Gerichtshof urteilt in ständiger Rechtsprechung, dass eine Verletzung des unionsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör nur dann verfahrensrechtliche Relevanz hat, wenn das Verfahren ohne diese Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. EuGH, Urteil vom 14.02.1990, Rs. C-301/87 <Boussac> Rn. 31; Urteil vom 05.10.2000, Rs. C-288/96 <Jako> Rn. 101; Urteil vom 15.11.2011, Rs. C-106/09P <Gibraltar> Rn. 179). [...]