VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 25.04.2017 - A 10 K 4909/17 - asyl.net: M25093
https://www.asyl.net/rsdb/M25093
Leitsatz:

1. Ob die Klage im Asylverfahren aufschiebende Wirkung hat, hängt nicht davon ab, ob die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AsylG objektiv nicht vorliegen und damit die Voraussetzungen des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG und dementsprechend die 30tägige Ausreisefrist vom Bundesamt zu setzen gewesen wäre, sondern davon, welche Ausreisefrist das Bundesamt tatsächlich gesetzt hat.

2. Hat das Bundesamt zu Unrecht eine Ausreisefrist von nur einer Woche gesetzt, ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, nicht hingegen ein Antrag auf Feststellung, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat, in analoger Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Suspensiveffekt, Rechtsmittel, Ausreisefrist, Asylverfahren, Unzulässigkeit, Sachaufklärungspflicht,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 36 Abs. 1, AsylG § 38 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Obwohl – wie noch zu zeigen sein wird – nicht die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AsylG, sondern die des § 38 Abs. 1 AsylG vorliegen, hat die Klage nicht bereits nach Maßgabe von § 75 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung, mit der Folge, dass lediglich festgestellt werden könnte, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 5 VwGO analog). Die Klage gegen Entscheidungen nach dem Asylgesetz hat nach § 75 Abs. 1 AsylG nur in den Fällen des § 38 Abs. 1 sowie der – hier nicht einschlägigen – §§ 73, 73b und 73c aufschiebende Wirkung. Gemäß § 36 Abs. 1 AsylG beträgt die dem Ausländer im Rahmen der Abschiebungsandrohung zu setzende Ausreisefrist in den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4 AsylG und in Fällen der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags eine Woche. In den sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den Ausländer nicht als Asylberechtigten anerkennt, beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist gemäß § 38 Abs. 1 S. 1 AsylG 30 Tage. Aus dem weiteren Regelungszusammenhang ergibt sich aber, dass die aufschiebende Wirkung der Klage nicht davon abhängt, ob die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AsylG objektiv nicht und damit die Voraussetzungen des § 38 Abs. 1 S. 1 AsylG vorliegen und dementsprechend die 30-tägige Ausreisefrist vom Bundesamt zu setzen gewesen wäre, sondern davon, welche Ausreisefrist das Bundesamt tatsächlich gesetzt hat. Andernfalls wären die in § 37 AsylG getroffenen Regelungen über das weitere Verfahren bei stattgebender gerichtlicher Entscheidung überflüssig. Insbesondere § 37 Abs. 1 AsylG stützt diese Auslegung. Danach werden die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Antrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und die Abschiebungsandrohung – kraft Gesetzes – unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht, und das Bundesamt hat das Asylverfahren fortzuführen. Der Gesetzgeber geht demnach davon aus, dass selbst, wenn sich die Unzulässigkeit des Asylantrags aus anderen in § 29 Abs. 1 AsylG genannten Gründen ergeben sollte oder nach weiteren Ermittlungen doch aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AsylG, dies zunächst vom Bundesamt festzustellen ist. Der Weg hierfür soll schnell eröffnet werden, indem bereits das Gesetz die Rechtsfolge – Fortführung des Asylverfahrens – anordnet. Damit wird deutlich, dass der Umweg über die Feststellung im Eilverfahren, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat, und anschließend die Aufhebung des Bescheids im Hauptsachverfahren nicht gewollt ist. Sobald das Bundesamt durch Setzung der kurzen Ausreisefrist das beschleunigte Verfahren in Gang gesetzt hat, kann dies nur durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wieder "entschleunigt" werden.

Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere wurde die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG gewahrt.

Der Antrag ist auch begründet, da ernstliche Zweifel an der auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeit des Asylantrags bestehen, § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG.

Gemäß Art. 16a GG, § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen ernstliche Zweifel im Sinne von Art. 16a Abs. 4 S. 1 GG vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166 ff.).

Derartige ernstliche Zweifel bestehen vorliegend. Den Antragstellern wurde die Abschiebung zu Unrecht unter Setzung einer nur einwöchigen Ausreisefrist angedroht.

Gemäß § 36 Abs. 1 AsylG ist einem Ausländer – abgesehen von Fällen der offensichtlichen Unbegründetheit – (lediglich) in den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG eine Ausreisefrist von einer Woche zu setzen. Die Annahme des Bundesamtes, dass der Asylantrag der Antragsteller nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, da ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union ihnen bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt habe, begegnet durchgreifenden Bedenken. Die Annahme ist im Bescheid ausschließlich auf die Angaben der Antragstellerin zu 1 im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung gestützt, wonach sie einen unbefristeten Aufenthaltstitel für Italien besitze. Diesen Angaben lässt sich nicht entnehmen, dass die Antragstellerin zu 1 überhaupt je ein Asylverfahren in Italien betrieben hätte. Hinsichtlich der Antragsteller zu 2 bis 4, die nach den vorgelegten Reisepässen die italienische Staatsangehörigkeit besitzen sollen, ist dies geradezu fernliegend. Bei der Antragstellerin zu 1 ist ebenso denkbar, dass sie über ihren Ehemann bzw. über ihre Kinder oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht in Italien erworben hat. Weitere Erkenntnisse zu einem möglichen früheren Asylverfahren, insbesondere einen EURODAC-Treffer, enthält die Bundesamtsakte nicht, wobei auch ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 lediglich die Asylantragstellung, nicht hingegen den Ausgang des betreffenden Asylverfahrens belegen würde. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig kann auch nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gestützt werden, denn diese Vorschrift findet nur Anwendung bei sonstigen Drittstaaten gemäß § 27 AsylG, die gerade nicht Mitglied der Europäischen Union sind.

Nicht entscheidungserheblich ist demgegenüber, ob die Behandlung der Asylanträge der Antragsteller oder jedenfalls des Asylantrags der Antragstellerin zu 1 als unzulässig möglicherweise in § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG seine Grundlage finden könnte oder ob der Anwendbarkeit dieser Vorschrift hinsichtlich EU-Mitgliedstaaten die Regelung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. c) der Verfahrensrichtlinie 2013 (RL 2013/32/EU) entgegensteht. Denn § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist in § 36 Abs. 1 AsylG nicht genannt, sodass auf dieser Basis die Abschiebungsandrohung mit der einwöchigen Ausreisfrist nicht aufrecht erhalten werden könnte.

Die Anordnung des Suspensiveffekts der Hauptsacheklage hat dabei gemäß § 37 Abs. 1 AsylG zur Folge, dass die Unzulässigkeitsentscheidung der Antragsgegnerin kraft Gesetzes unwirksam wird und die Antragsgegnerin das Asylverfahren nunmehr fortzuführen hat. Für den Eintritt der Rechtsfolge des § 37 Abs. 1 AsylG ist es dabei unerheblich, aus welchen Gründen der Eilrechtsschutzantrag Erfolg hat (so auch VG Trier, Beschluss vom 16.03.2017 - 5 L 1846/17.TR -, juris, m.w.N. aus der Kommentarliteratur).

Sollten die Antragsteller zu 2 bis 4 tatsächlich italienische Staatsangehörige sein, was allein durch die Vorlage der italienischen Reisepässe noch nicht nachgewiesen sein dürfte, sondern wohl der Vorlage italienischer Staatsangehörigkeitsbescheinigungen bedürfte, wären sie als Unionsbürger gemäß § 2 Abs. 4 S. 1 FreizügG/EU ohne Visum und ohne Aufenthaltstitel zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Ihnen dürfte dann – unabhängig vom Ausgang ihrer Asylverfahren – nicht die Abschiebung nach Italien angedroht werden, solange nicht die Ausländerbehörde nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hätte, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht besteht, da sie bis zu dieser Feststellung nicht ausreisepflichtig wären. [...]