VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 26.01.2017 - A 3 K 4020/16 - asyl.net: M25109
https://www.asyl.net/rsdb/M25109
Leitsatz:

1. Sunnitische Muslime sind in Bagdad/Irak keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt.

2. In der gesamten Provinz Bagdad und damit auch im Stadtgebiet der gleichnamigen irakischen Hauptstadt herrscht gegenwärtig ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Für das Stadtgebiet kann jedoch kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt angenommen werden, dass eine Zivilperson auch bei Fehlen besonderer persönlicher gefahrerhöhender Umstände einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Bagdad, Gruppenverfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, gefahrerhöhende Umstände, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Auch die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung der für den Kläger allein relevanten Personengruppe der arabischstämmigen Sunniten liegen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Annahme einer Gruppenverfolgung entweder ein staatliches Verfolgungsprogramm (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.07.1994 - BVerwG 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200, 204) oder – im Fall einer nichtstaatlichen Verfolgung – eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die Vermutung einer auch individuellen bestehenden Verfolgungsgefahr rechtfertigt. Letzteres setzt eine solche Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter voraus, dass nicht mehr nur von einzelnen Übergriffen gesprochen werden kann, sondern die Verfolgungshandlungen auf alle sich im Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die Gruppe definierende, asylerhebliche Merkmale treffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 – 10 C 11/08 – NVwZ 2009, 1237, juris, Rn. 13, m.w.N.).

Trotz bestehender Benachteiligungen der sunnitischen Minderheit durch den irakischen Staat (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 13) existiert kein staatliches Verfolgungsprogramm im oben genannten Sinne. Auch kann im Hinblick auf nichtstaatliche Verfolgungshandlungen eine ausreichende Verfolgungsdichte bezogen auf die Herkunftsregion des Klägers (Stadtgebiet bzw. Provinz Bagdad) im für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht festgestellt werden. Zwar werden Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft nicht selten gezielt Opfer schiitischer Milizen. Dokumentiert sind etwa willkürliche Hausdurchsuchungen und Kontrollen, Entführungen, Erschießungen, körperliche Strafen, Misshandlungen und Verwundungen (vgl. UNHCR, Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA) in Baghdad, Mai 2016, S. 4 ff.; UK Home Office, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, August 2016, S. 23ff.; Finnish Immigration Service [FIS], Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, April 2015, S. 15 ff.; Amnesty International, Punished for Daesh’s Crimes“ - Dispaced Iraqis abused by militias and government forces, Oktober 2016). Dies allein reicht für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber nicht aus. Es bedarf vielmehr der positiven Feststellung einer hinreichenden Verfolgungsdichte durch zumindest ungefähre quantitative Bestimmung der Verfolgungshandlungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.04.2009, a.a.O., Rn. 18 f.). Dies ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel allenfalls schätzungsweise möglich. Denn nur ein Teil der statisch erfassten gewaltsamen Handlungen (zu den Zahlen ziviler Toter und Verletzter siehe unten; quantitative Daten zu sonstigen Verfolgungshandeln im Sinne des § 3a AsylG sind - soweit ersichtlich - nicht vorhanden) in der Provinz Bagdad richtet sich gegen die Betroffenen in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Sunniten. Entsprechende Handlungen werden gerade auch gegen Angehörige der schiitischen Glaubensgemeinschaft bzw. allgemein gegen die Zivilbevölkerung zur Destabilisierung des Landes verübt (vgl. UK Home Office, Iraq: Security Situation in Baghdad, the south and the Kurdistan Region of Iraq, Version 2.0: August 2016, S. 22 ff.). Ein Großteil insbesondere der Bombenanschläge (vgl. beispielhaft New York Times vom 02.01.2017: Suicide Bombing in Baghdad Kills at Least 36; New York Times vom 15.10.2016: Attacks by ISIS Kill Dozens in Iraq; New York Times vom 04.07.2016: ISIS Bombing in Baghdad Casts Doubt on Iraqi Leader’s Ability to Unite; alle abgerufen am 07.02.2017) geht dabei auf das Konto sunnitischer Aufständischer, vor allem des sogenannten “Islamischen Staates” (vgl. Institute for the Study of War: ISIS Battle Plan for Baghdad, www.understandingwar.org backgrounder/isis-battle-plan-Baghdad, abgerufen am 07.02.2017; UNHCR, a.a.O., S. 22f.; FIS, a.a.O., S. 13 f.). Bombenanschläge sind wiederum die Hauptursache konfliktbedingter Tötungen (und Verletzungen) in Bagdad (Nach den veröffentlichten Zahlen der Nichtregierungsorganisation "Iraq Body Count" wurden 4635 von insgesamt 6558 Tötungen in der Provinz Bagdad zwischen Januar 2015 und Dezember 2016 durch "explosives" verursacht, also etwa 70 Prozent, vgl. www.iraqbodycount.org/statistics/; siehe auch UK Home Office, a a.O., S. 18). Setzt man die vorgenannten Zahlen ins Verhältnis zu dem Anteil der Sunniten an der Gesamtbevölkerung (vgl. de.wikipedia.org/wiki/Bagdad: etwa 20-25 Prozent im Stadtgebiet), lässt sich eine über die allgemeine Gefahr (erheblich) hinausgehende Gefährdung dieser Bevölkerungsgruppe durch gewaltsame Handlungen nicht positiv feststellen. Dann kann aber auch keine hinreichende Verfolgungsdichte für die Annahme einer Gruppenverfolgung der sunnitischen Glaubensgemeinschaft angenommen werden.

Auch die für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderliche Gefahrendichte (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22) wird in der für die Betrachtung maßgeblichen Herkunftsregion des Klägers nicht erreicht.

Zwar ist nach Überzeugung des Einzelrichters davon auszugehen, dass der in weiten Teilen des Irak derzeit vorherrschende Konflikt in der gesamten Provinz Bagdad und damit auch im Stadtgebiet Bagdad einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylVfG (zum Begriff vgl. BVerwG, Urt. v. 24.06.2008 – 10 C 43/07 –, BVerwGE 131, 198, juris Rn. 19ff.) darstellt. [...]

Bei Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in der Herkunftsregion des Klägers besteht ein Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes aber nur, wenn im Rahmen dieses Konflikts für den jeweiligen Betroffenen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt besteht. Diese Voraussetzung liegt im Hinblick auf den Kläger jedoch nicht vor.

Zwar ist den vom Gericht ausgewerteten aktuellen Erkenntnismitteln zu entnehmen, dass die Zahl der zivilen Opfer mit landesweit mindestens 26.600 im Zeitraum Januar 2014 – Dezember 2016 (vgl. die Daten der UNAMI, www.uniraq.org → Resources → Civilian Casualties) einen zuletzt in den Bürgerkriegsjahren 2006 und 2007 erreichten Höchststand erreicht hat und hiervon mit der Provinz Bagdad gerade die Herkunftsregion des Klägers jedenfalls bei absoluter Betrachtung der Opferzahlen) am intensivsten betroffen ist (UNAMI, a.a.O.). Nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäben ist jedoch auch in Fällen eines derart akuten bewaffneten Konflikts eine Ermittlung der konkreten Gefahrendichte unter Einschluss einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos geboten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.07.2013 – 10 B 4/13 –, juris, Rn. 2; Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., Rn. 22; Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4/09 –, BVerwGE 136, 360, juris Rn. 32ff.). Dabei kann im Fall individuell vorliegender gefahrerhöhender Umstände ein vergleichsweise geringes Niveau willkürlicher Gewalt genügen, während eine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bei Abwesenheit persönlicher gefahrerhöhender Umstände nur in einer (außergewöhnlichen) Situation angenommen werden kann, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr auch individuell ausgesetzt wäre (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a.a.O., Rn. 33f. unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 17.02.2009 – C-465/07 [Elgafaji] –, Rn. 35ff.).

Ein in diesem Sinne hoher Gefahrengrad wird im Gebiet der Stadt Bagdad - dem Herkunftsort des Klägers - derzeit jedoch auch bei Annahme einer Fortsetzung des bestehenden Konflikts mit unveränderter Intensität nicht erreicht. Zwar ist nach den von der UNAMI veröffentlichten Zahlen, die diese ausdrücklich als Mindestangaben begreift, in der Provinz Bagdad im Jahr 2014 von mindestens 12.077 zivilen Toten und Verletzten, im Jahr 2015 von mindestens 12.963 zivilen Toten und Verletzten, und im Jahr 2016 von mindestens 11.961 zivilen Toten und Verletzten (Januar: 299 Tote, 785 Verletzte; Februar: 277 Tote, 838 Verletzte; März: 259 Tote, 770 Verletzte; April: 232 Tote, 642 Verletzte; Mai: 267 Tote, 740 Verletzte; Juni: 236 Tote, 742 Verletzte; Juli: 513 Tote, 887 Verletzte; August: 231 Tote, 676 Verletzte; September: 289 Tote, 838 Verletzte; Oktober: 268 Tote, 807 Verletzte; November: 152 Tote, 581 Verletzte; Dezember: 109 Tote, 523 Verletzte) auszugehen, so dass für die gesamte Provinz Bagdad bei unverändertem Fortgang des Konflikts und Berücksichtigung einer Dunkelziffer von mindestens 1/3 der von den genannten Statistiken erfassten Fälle mit einer Gesamtzahl von ca. 17.000 Getöteten und Verletzten im Zeitraum eines Jahres zu rechnen ist. Dieser Gesamtzahl stehen jedoch eine Wohnbevölkerung der Provinz Bagdad von ca. 9.500.000 Menschen (laut en.wikipedia.org/wiki/Baghdad_Governorate, unter Berufung auf Schätzungen aus dem Jahr 2012) sowie etwa 570.000 sich dort aufhaltende Binnenflüchtlinge aus anderen Provinzen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 15) gegenüber, so dass die Gefahr einer Verletzung von Leib oder Leben infolge der stattfindenden gewaltsamen Kampfhandlungen in der Provinz Bagdad derzeit jährlich ca. 1 : 592 bzw. ca. 0,17 % betragen dürfte. Hinzu kommt, dass die umkämpften Außenbezirke der Provinz im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl weit überproportional betroffen sein dürften (vgl. UK Home Office, Iraq: Security Situation in Baghdad, the south and the Kurdistan Region of Iraq, a.a.O., S. 10 ff.; UNHCR, a.a.O. S. 18 ff.). Konkrete Anzeichen für eine weitere Erhöhung der Intensität des Konflikts in der näheren Zukunft sind angesichts der Entwicklung der Opferzahlen in den letzten Monaten nicht ersichtlich. Auf dieser Grundlage kann jedoch auch unter Berücksichtigung der angespannten medizinischen Versorgungssituation in Bagdad (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 19) derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der den herrschenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 29.10.2010 – 9 A 3642/06.A –, juris, Rn. 63f., zu einer Gefahrendichte von 1:520 (0,19 %); Bayrischer VGH, Urt. v. 21.01.2010 – 13a B 08.30283 –, juris, Rn. 27, zu einer Gefahrendichte von 1:600 (0,17 %) und VG Bayreuth, Urt. v. 05.09.2014 – B 3 K 14.30233 –, juris, Rn. 65, zu einer Gefahrendichte von 0,38 %. Vgl. schließlich auch BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., Rn. 22f., mit dem Hinweis, dass eine allgemeine Gefahrendichte von 1:800 (0,125 %) "so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt" sei, dass sich die unterbliebene Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage vor Ort im Ergebnis nicht auf die Entscheidung auszuwirken vermöge).

Eine individuelle Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ergibt sich auch nicht aus persönlichen gefahrerhöhenden Eigenschaften des Klägers. Der Kläger gehört weder einer besonders gefährdeten Berufsgruppe (vgl. hierzu den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 13) noch einer ethnischen Minderheit an. Zwar ist die sunnitische Glaubensgemeinschaft in Bagdad in der Minderheit. Auch sind Sunniten in Bagdad regelmäßig Übergriffen schiitischer Milizen ausgesetzt, die Folter, körperliche Strafen, Verwundungen und den Tod zur Folge haben können (vgl. FIS, a.a.O.; UK Home Office, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, a.a.O., S. 23ff.). Die Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft allein – ohne weitere hinzutretende Umstände – genügt jedoch nicht, um eine individuelle Gefährdung des Klägers in Bagdad annehmen zu können. Die beschriebenen Übergriffe gegen Sunniten richten sich überproportional gegen Binnenflüchtlinge aus den umkämpften Provinzen im Nordirak (vgl. UNHCR, a.a.O., S. 10 ff.; Amnesty International, a.a.O.). Der Kläger hat hingegen im Irak stets in der Stadt Bagdad gelebt und war damit zuletzt dort registriert. Individuelle gefahrerhöhende Umstände ergeben sich zudem auch nicht aus der vom Kläger berichteten Bedrohung im Jahr 2006. Selbst bei Wahrunterstellung dieses – ohne ersichtlichen Grund erst im gerichtlichen Verfahren erfolgten – Vortrags vermag dieser eine individuelle Gefährdung des Klägers wegen der Aufgabe der nur kurz ausgeübten Tätigkeit bei der staatlichen Energiebehörde und der seitdem vergangenen Zeit von zehn Jahren nicht zu begründen. [...]