OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 11.04.2017 - 1 Bs 55/17 - asyl.net: M25122
https://www.asyl.net/rsdb/M25122
Leitsatz:

Auch vergangene Täuschungshandlung kann Aufenthalt bei nachhaltiger Integration ausschließen:

"Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen nachhaltiger Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse (§ 25b AufenthG) kann auch ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten (z.B. Identitätstäuschung, fehlende Mitwirkung an der Beseitigung von Ausreisehindernissen) entgegenstehen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Integration, Täuschung über Identität, Mitwirkungspflicht, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausweisung, Versagungsgrund, Identitätstäuschung,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

b) Aber auch in der Sache trifft die Ansicht der Beschwerde nicht zu, es ergebe sich eindeutig aus dem Gesetz, dass nur aktuelle Täuschungshandlungen (bzw. andere in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG aufgeführte Verhaltensweisen) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausschlössen.

Dem steht schon der Umstand entgegen, dass § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG lediglich einen Soll-Anspruch normiert, was voraussetzt, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen trotz bejahter nachhaltiger Integration die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach pflichtgemäß ausgeübtem Ermessen abgelehnt werden kann. Anders als bei einer Anspruchsnorm, bei der die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl positiv als auch negativ abschließend bestimmt sind, kann bei einem Soll-Anspruch nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt; die möglichen Versagungsgründe sind hiernach gerade nicht in abschließender Weise durch den Gesetzgeber vollumfänglich ausformuliert (so ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21).

Ferner ist im Rahmen von § 25b AufenthG auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses – anwendbar (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, 1 C 17.12, BVerwGE 146, 281, juris Rn. 18 ff., dort zu § 25a AufenthG); hiervon geht auch die Gesetzesbegründung aus (BT-Drs. 18/ 4097, S. 45). § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG enthält zwar insofern eine Abweichung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, als für die dort geregelten Fälle zwingend die Versagung der Aufenthaltserlaubnis vorgeschrieben wird, lässt die Geltung der Vorschrift im übrigen aber unberührt. Zwar kann nur ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse zu Lasten des Ausländers herangezogen werden (mit der Möglichkeit, nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach Ermessen hiervon abzusehen), doch mag das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten unter Umständen auch ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse begründen können.

Das Beschwerdegericht hat in einem Beschluss vom 25. November 2015 (1 So 82/15, n.v.) ausgeführt:

Zutreffend dürfte sein, dass der Versagungsgrund des § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG dahingehend auszulegen ist, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur dann zwingend zu versagen ist, wenn der Ausländer aktuelle Mitwirkungshandlungen versagt (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 44). Allerdings kommt in Betracht, dass die Verletzung von Mitwirkungspflichten in der Vergangenheit einerseits einen Ausnahmefall begründen kann, so dass trotz Vorliegens der die Vermutung der nachhaltigen Integration begründenden Umstände des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nicht zu erteilen ist (vgl. in diesem Sinn zu einer langjährigen fehlenden Passvorlage: OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 15). Anderseits kann die Verletzung der Mitwirkungspflichten in der Vergangenheit ein Ausweisungsinteresse begründen, so dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu versagen ist; § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gilt uneingeschränkt auch für die Vorschrift des § 25b AufenthG (vgl. BT-Drs. 18/4097; zum Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG n.F.: VGH Mannheim, Beschl. v. 25.8.2015, 11 S 1500/15, juris Rn. 9).

Daneben mag in Betracht kommen, die in § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG enthaltene Formulierung "dies setzt regelmäßig voraus" auch für solche Umstände zu öffnen, die im Ergebnis der Annahme einer nachhaltigen Integration entgegenstehen (so OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 7 ff.; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10).

Welche Argumentationslinie vorzuziehen ist, muss im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens nicht entschieden werden; das Beschwerdegericht neigt allerdings zu einer Berücksichtigung früheren Fehlverhaltens auf der Rechtsfolgenseite des § 25b AufenthG (ggf. Ausnahme vom Soll-Anspruch mit der Folge, dass über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden ist). Jedenfalls aber trifft die Annahme der Beschwerde nicht zu, dass außerhalb aktueller Täuschungshandlungen liegende Verhaltensweisen unter keinen Umständen einem Anspruch nach § 25b AufenthG entgegen gehalten werden können. [...]