OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.06.2017 - 11 S 94.16 - asyl.net: M25265
https://www.asyl.net/rsdb/M25265
Leitsatz:

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Eilrechtsschutzantrag, der darauf zielt, die Fortgeltung der Fiktionswirkung zu erreichen, entfällt nicht schon deshalb, weil die Abschiebungsandrohung wegen des noch laufenden Asylverfahrens (Klageverfahren) nicht vollziehbar ist. Denn es besteht für die betroffene Person ein darüber hinausgehendes Interesse, z.B. weiter eine wegen der Fortgeltungsfiktion erlaubte Erwerbstätigkeit ausüben zu dürfen.

2. Die Frage, ob die Ablehnung eines Asylantrags der Verlängerung einer bereits vor dem Asylverfahren bestehenden Aufenthaltserlaubnis entgegensteht, ist im Hauptsacheverfahren zu klären.

3. Die Frage, ob die Sperrwirkung nur bei unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrags greift (also nicht schon während eines noch laufenden Asylklageverfahrens) ist ebenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären.

4. Der Verdacht einer schweren staatsgefährdenden Straftat steht der Verlängerung nicht entgegen, wenn mehr als zwei Jahre nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens noch keine Anklage erhoben wurde.

5. Arbeitslosigkeit im Zeitpunkt des Verlängerungsantrags steht der Verlängerung nicht entgegen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie nur vorübergehend ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausweisungsinteresse, Ermittlungsverfahren, schwere staatsgefährdende Straftat, terroristische Vereinigung, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Sicherung des Lebensunterhalts, Asylantrag, Sperrwirkung, Suspensiveffekt,
Normen: AufenthG 81 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 34 Abs. 3, AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 4, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

2 1. Entgegen der Annahme des Antragsgegners kann dem Antragsteller das Rechtsschutzbedürfnis für seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nicht mit Blick auf die asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. März 2017 abgesprochen werden. Zwar mag Letzteres seine Abschiebung auf der Grundlage der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 27. Juli 2016 in Frage stellen, nicht jedoch das Rechtsschutzbedürfnis für sein Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der die weitere Ausübung einer Erwerbstätigkeit ermöglichenden Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit dem Ziel, die Fortgeltung der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu erreichen. Dem steht die Stellung eines Asylantrags durch den Antragsteller nicht entgegen (vgl. § 55 Abs. 2 Satz 2 AsylG; siehe auch Sennekamp, HTK-AuslR/§ 10 AufenthG/zu Abs. 2 04/2016 Nr. 5).

3 2. Dass einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers gemäß § 34 Abs. 3 AufenthG mit Blick auf die Ablehnung seines Asylantrags nach § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entgegensteht, wie der Antragsgegner meint, vermag der Senat im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht festzustellen und muss deshalb abschließender Beurteilung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die letztgenannte Regelung überhaupt für die Fälle der Verlängerung eines bereits erteilten oder verlängerten Aufenthaltstitels gemäß § 10 Abs. 2 AufenthG - wie vorliegend - gilt (verneinend unter Verweis auf den Zweck der Regelung des § 10 AufenthG: Discher in: GKAufenthG, Kommentar, Stand Juli 2014, § 10 AufenthG Rn. 25, 88 ff. und diesem folgend OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. September 2009 - 2 L 118/08 -, juris Rn. 37; a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juli 2007 - 12 ME 252/07 -, juris Rz. 7). Zudem spricht viel dafür, dass auch § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, d.h. nicht nur dessen Satz 1, die - hier nicht vorliegende - Unanfechtbarkeit einer Asylablehnung voraussetzt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 73: "unanfechtbar abgelehnte Asylbewerber"; s. auch Nr. 10.3.0 Aufenth-VwV zu § 10: "§ 10 Absatz 3 findet erst Anwendung, wenn das Asylverfahren unanfechtbar abgeschlossen ist."; insoweit unklar Zeitler, HTK-AuslR/§ 10 AufenthG/zu Abs. 3 Satz 2 03/2017 einerseits in Nr. 1, in Nr. 4 am Ende andererseits).

4 3. Der Senat vermag vorliegend auch nicht festzustellen, dass der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers, wie der Antragsgegner meint, ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegensteht. Zwar wird gegen diesen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB) geführt, weil er Ende 2014 nicht unerhebliche Vermögenswerte für die Finanzierung der Teilnahme einer radikal-islamistischen Gruppierung am Kampf gegen den syrischen Staat gesammelt und dieser durch mehrere Überweisungen zur Verfügung gestellt - der Antragsteller selbst hat das seinerzeit transferierte Geld als "Akika-Opfergabe" bezeichnet - sowie im Jahre 2015 eine schwerpunktmäßig von Salafisten besuchte Moschee aufgesucht haben soll. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. AufenthG handelt es sich dabei um eine Straftat, die ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse durchaus zu begründen vermag. Der diesbezügliche kriminalpolizeiliche Schlussbericht datiert allerdings bereits vom September 2015, liegt mithin inzwischen 21 Monate Jahre zurück, ohne dass gegen den - strafrechtlich bisher offensichtlich unbelasteten - Antragsteller zumindest Anklage erhoben worden ist. Dass der Antragsgegner im Rahmen der Beschwerdeerwiderung ausführt, es sei ausweislich der Ausländerakte davon auszugehen, dass ein für die Anklageerhebung hinreichender Tatverdacht bestehe, wirft die unbeantwortet gebliebene Frage auf, warum dies nach einer derart langen Zeit bisher nicht erfolgt ist. Auf Zweifel des Senats am hinreichend belegten Bestehen eines Ausweisungsinteresses ist der Antragsgegner bereits Mitte Februar 2017 hingewiesen und ihm unter Fristsetzung "Gelegenheit zur Aktualisierung der vorliegenden Erkenntnisse und Konkretisierung (ergänzende Vorlage), insbesondere auch betreffend das Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller" gegeben worden. Auch im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter am 6. Juni 2017 hat der Antragsgegner auf diesbezügliche Nachfrage allerdings nur erklärt, der zuständige Staatsanwalt habe in einem Telefonat vom 31. Mai 2017 darauf hingewiesen, dass das Ermittlungsverfahren weiterhin nicht abgeschlossen sei und aus ermittlungstaktischen Gründen keine weiteren Auskünfte gegeben werden könnten. Ungeachtet des erheblichen, schon durch die Benennung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zum Ausdruck kommenden Gewichts des genannten Delikts vermag der Senat unter diesen Umständen das Bestehen eines Ausweisungsinteresses derzeit nicht hinreichend sicher festzustellen.

5 4. Unter Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen kann für das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren gegenwärtig prognostisch auch davon ausgegangen werden, dass der Lebensunterhalt des Antragstellers hinreichend gesichert ist (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). [...]