VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 09.05.2017 - 6 K 2574/15.GI - asyl.net: M25370
https://www.asyl.net/rsdb/M25370
Leitsatz:

Dem von einem schuldunfähigen Täter ausgehenden Gefahrenpotential kann nicht durch die gefahren­unanbhängige Ausschlussregelung des § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 AufenthG wegen Unwürdigkeit, sondern durch die der Gefahrenabwehr dienende Ausschlussregelung des § 25 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AufenthG aufenthaltsrechtlich Rechnung getragen werden.

Hat sich der Täter nach Aussetzung des Maßregelvollzugs (§ 67d Abs. 2 S. 1 StGB) bewährt (hier: Einsicht in die Ursachen der Tat bzw. die medikamentöse Behandlung seiner Erkrankung) und ist seine Lebensführung auch künftig durch die im Rahmen der fortdauernden Führungsaufsicht erteilten Weisungen bestimmt, erlaubt dies eine günstige aufenthaltsrechtliche Gefahrenprognose.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Straftat, schuldunfähig, Ausschlussgrund, Gefahrenprognose, Schuldunfähigkeit,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2, AufenthG § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 4, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylG 4 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der begehrten Aufenthaltserlaubnis steht weder die gefahrenunabhängige Ausschlussregelung des § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 AufenthG wegen Unwürdigkeit noch die der Gefahrenabwehr dienende Erteilungssperre der Ausschlussregelung des § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 4 AufenthG) entgegen.

Nach § 25 Abs. 3 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn - wie im Falle des Klägers - ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt. Die Aufenthaltserlaubnis wird unter anderem nicht erteilt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat (§ 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 AufenthG). Der nach den Feststellungen des Landgerichts Darmstadt in seinem Urteil vom 5. April 2002 vom Kläger im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene Mord stellt keine Straftat von erheblicher Bedeutung i.S.d. vorgenannten Regelung dar.

Eine Straftat ist dann nach § 25 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AufenthG von erheblicher Bedeutung, wenn sie schwer i.S.v. Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83 ist (OVG Bremen, Urteil vom 10.05.2011 - 1 A 306/10 u.a. -, Juris zu § 25 Abs. 3 a.F.). Die Gründe, die nach § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausschließen, entsprechen den in Artikel 17 Abs. 1 lit. b RL 2004/83/EG inhaltsgleich geregelten Gründen, die eine Gewährung subsidiären Schutzes ausschließen und ihrerseits der Sache nach den Ausschlussgründen des  § 4 Abs. 2 S. 1 AsylG entsprechen. Im Anschluss an Art. 17 Abs. 1 lit. b RL 2004/83 und unter Heranziehung des vom Europäischen Gerichtshof in seinen Urteilen vom 9.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - (Juris) dargelegten Verständnisses der Parallelregelung für den Ausschluss des Flüchtlingsstatus in Artikel 12 Abs. 2 lit. b RL 2004/83/EG bezeichnet § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG Fälle, in denen der Ausländer einer Aufenthaltsgewährung als unwürdig erachtet wird (BVerwG, Urteil vom 25.03.2015 - 1 C 16.14 -, Juris, zu § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG i.d.F. v. 22.11.2011). Entscheidend ist daher nicht so sehr der abstrakte Charakter des jeweils verwirklichten Straftatbestandes, sondern, ob die konkrete Tatverwirklichung nach Art und Schwere so gewichtig ist, dass die Erteilung eines Aufenthaltsrechts unbillig wäre (BVerwG, Urteil vom 25.03.2015 - 1 C 16.14 -, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2013 - 11 S 1770/13 -, Juris). Dabei ist nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs die sowohl nach objektiven als auch nach subjektiven Kriterien zu beurteilende individuelle Verantwortung der betreffenden Person bedeutsam für die Schwere der Tat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG, die entsprechend auch im Anwendungsbereich des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG maßgeblich ist, erfordert die (nach dem Urteil des EUGH vom 9.11.2010 - C-57/09 u.a.) notwendige individuelle Verantwortlichkeit eine Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne. Dabei sind im Rahmen der alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehenden Beurteilung der Schwere der Straftat auch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe grundsätzlich zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 - 10 C 13.11 -, Juris; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2013 - 11 S 1770/13 -, a.a.O.). Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu mit Blick auf den in der Wertehierarchie der internationalen Gemeinschaft allgemein anerkannten Rang des Rechts auf Leben hervorgehoben, dass bei einem rechtswidrigen vorsätzlichen Tötungsdelikt ein Schuldausschluss allerdings nicht in Betracht komme, wenn nicht im Einzelfall ganz besondere Umstände gegen eine Erkennbarkeit des Strafrechtsverstoßes sprächen (Urteil vom 04.09.2012 - 10 C 13.11 -, a.a.O.). Soweit die Kammer hieran anknüpfend in dem im Prozesskostenhilfeverfahren ergangenen Beschluss vom 01.06.2016 die Ansicht vertreten hat, der brutalen und heimtückischen Begehungsweise des Mordes sei in der Bewertung der Bedeutung der Tat ein größeres Gewicht beizumessen als der Schuldunfähigkeit des Klägers, hält die Einzelrichterin an dieser nicht mehr fest und folgt den Überlegungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, der in seinem im Beschwerdeverfahren ergangenen Beschluss vom 06.10.2016, AZ.: 9 D 1514/16 hervorgehoben hat, dass sich die vorgenannte Darlegung des Bundesverwaltungsgerichts auf den Fall eines schuldfähigen Täters beziehe, dem vom Berufungsgericht ein unvermeidbarer Verbotsirrtum zugute gehalten worden sei, eine Wertung, von der es die Revisionsinstanz nicht habe überzeugen können. Wie in der Beschwerdeentscheidung weiter ausgeführt, ist im vorliegenden Fall jedoch kein möglicher Entschuldigungsgrund auf seine Stichhaltigkeit zu prüfen, sondern ein Schuldausschließungsgrund geltend gemacht. Der Kläger habe sich zu seiner Exkulpation nicht auf verfehlte Wertvorstellungen als Ursache seiner Tat berufen; vielmehr habe das Schwurgericht festgestellt, er habe krankheitsbedingt keine Unrechtseinsicht gewinnen können. Auch an anderer Stelle zeige sich in den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, dass es ausschließlich einen schuldhaft handelnden Täter im Blick gehabt habe, wenn es dort zur Abgrenzung "gemeiner Straftäter" von politischen Flüchtlingen heiße, die vorsätzliche rechtswidrige und schuldhafte Tötung oder erhebliche Verletzung eines Menschen erweise sich auch in Bezug auf eine behauptetes politisches Ziel grundsätzlich als unverhältnismäßig.

Ausgehend von der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach bei der Frage der individuellen Verantwortlichkeit Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe grundsätzlich zu berücksichtigen sind, spricht nach Auffassung der Einzelrichterin viel dafür, dass für die Annahme einer den Flüchtlingsschutz ausschließenden schweren nichtpolitischen Straftat i.S.d. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bzw. bei europarechtskonformer Auslegung der Ausnahmeregelung des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG für die Annahme einer Straftat von erheblicher Bedeutung die Einsichtsfähigkeit des Betreffenden vorauszusetzen ist. [...]