§ 2 Abs 2 und 3 FreizügG/EU schützt allein eine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt, die tatsächlich bestanden hat und nicht eine nicht in Vollzug gesetzte Vereinbarung.
Ist reisefähigen Inhaberinnen eines sog. "Schengentitels" bei Schwangerschaft oder nach der Geburt die Rückreise in das Ausstellerland nach der Verwaltungspraxis der Ausländerbehörde zumutbar, ist nicht ersichtlich, warum nicht auch reisefähige Unionsbürgerinnen in ihr Heimatland zurückkehren könnten.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
15 Der Beschwerde des Antragsgegners war stattzugeben, da sich die Antragstellerin zu 1) nicht auf einen (nachwirkenden) Status als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 und 3 Freizügigkeitsgesetz/EU beziehen kann. Nach den Beschlüssen des Senats vom 18. März 2016, L 31 AS 248/16 B ER, vom 17. Februar 2015, L 31 AS 3100/14 B ER, zitiert nach juris und vom 19. September 2016, L 31 AS 2058/16 B ER reicht ein Umfang einer Tätigkeit von etwa einer Stunde täglich, bzw. sieben Stunden wöchentlich oder 20 Stunden monatlich nicht aus, um die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen. Eine solche Tätigkeit ist unwesentlich und untergeordnet. Sie vermittelt keinen schützenswerten Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt. Damit folgt weder aus dem Vertrag vom 1. Dezember 2015 noch aus dem vom 24. März 2017 die Arbeitnehmereigenschaft. Damit entfällt auch nachwirkender Schutz.
16 Dabei ist nach Auffassung des Senats auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen und nicht auf den nicht vollzogenen schriftlichen Arbeitsvertrag. Die Arbeiternehmereigenschaft setzt die Ausübung einer tatsächlichen Beschäftigung voraus. Der Abschluss eines Arbeitsvertrages, der nicht vollzogen worden ist – oder wie hier nur in einem geringen Umfang von insgesamt 9,25 Stunden – reicht nicht aus. § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz/EU schützt allein eine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt, die tatsächlich bestanden hat, und nicht eine nicht in Vollzug gesetzte Vereinbarung. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob es sich nicht ohnehin um ein Scheinarbeitsverhältnis gehandelt hat.
17 Die Antragstellerin zu 1) kann sich auch nicht auf ein weiteres Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitssuche berufen. Ob die Duldung überhaupt als materielles Aufenthaltsrecht im Sinne des Regelungszusammenhangs des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesehen werden kann, ist fraglich. Jedenfalls löst die Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz, auf die sich die Antragstellerin zu 1) berufen will, Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 Asylbewerberleistungsgesetz aus. Für solche Leistungen ist der Antragsgegner aber nicht zuständig. Jedenfalls solange eine solche Duldung der Ausländerbehörde noch nicht erteilt ist, spricht aber alles dafür, dass einer reisefähigen Unionsbürgerin ebenso wie der Inhaberin eines Schengentitels dieRückreise in das Herkunftsland zumutbar ist (zur grundsätzlichen Zumutbarkeit einer Rückkehr: Beschluss des Senats vom 9.Juni 2016, L 31 AS 1158/ 16 B ER; Beschluss des Landessozialgerichts Mecklenburg vom 7. Juli 2016, L 9 SO 12/16 B ER, Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. April 2016, S 92 AS 359/16 ER, alle zitiert nach juris).
18 In den von der Antragstellerin zutreffend zitierten Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde zum Thema Ausreisepflicht, Schwangerschaft, Mutterschutz und Duldung ist zwar festgeschrieben, dass die Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung und damit auch eine Inhaftnahme drei Monate vor dem errechneten Entbindungstermin sowie drei Monate nach dem Tag der Entbindung regelmäßig entfalle. Nach den von der Antragstellerin zitierten "aktuellen Verfahrenshinweisen" gilt dies jedoch nicht, wenn eine medizinische Versorgung in einem anderen Schengen-Staat erfolgen kann. Eine Duldungserteilung kommt danach in diesen Fällen nur in Betracht, wenn ein qualifiziertes ärztliches Attest die Reiseunfähigkeit nachprüfbar bestätigt. Damit steht fest, dass sich Ausländerinnen, die ihr Aufenthaltsrecht aus einem Schengen-Titel ableiten, der in einem anderen Land als Deutschland ausgestellt wurde, bei Reisefähigkeit darauf verweisen lassen müssen, dorthin zurückzukehren.
19 Zu dem hier angesprochenen Personenkreis, bei dem es sich nur um Ausländerinnen aus Drittstaaten handeln kann, die nicht zur EU oder zu den Vertragsstaaten des Schengenabkommens gehören und deshalb einen Aufenthaltstitel nach dem Schengenabkommen benötigen, um im Schengenraum frei reisen zu können, gehört die Antragstellerin zu 1) ohnehin nicht, da sie als EU-Ausländerin und Unionsbürgerin nach § 2 Abs. 4 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU weder zur Einreise noch zum Aufenthalt in Deutschland eines Visums oder eines Aufenthaltstitels bedarf. Erst recht benötigt sie keinen Schengentitel, um in ihr Heimatland Rumänien zurückkehren zu können. Es ist darauf hinzuweisen, dass der "Schengenraum" und die EU weder geografisch noch von den Mitgliedsstaaten her identisch sind. Mitgliedsstaaten der EU wie zum Beispiel Rumänien gehören nicht zu den Staaten des Schengenabkommens, während einige EFTA-Staaten nicht Mitglied der EU, wohl aber Vertragspartner des Schengenabkommens sind. Die Einzelheiten sind jederzeit auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes abzurufen.
20 Ist reisefähigen Inhaberinnen eines Schengentitels die Rückreise in das Ausstellerland zumutbar, ist nicht ersichtlich, warum nicht auch reisefähige Unionsbürgerinnen in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Ob eine solche Ausreiseverpflichtung durchgesetzt würde, ist eine andere Frage. [...]