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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 20.05.2016 - V ZB 24/16 - asyl.net: M25443
https://www.asyl.net/rsdb/M25443
Leitsatz:

a) § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG genügt den Anforderungen von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung und kann daher Grundlage für die Anordnung von Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung sein.

b) Sicherungshaft i.S.d. § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG (= § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG) ist auch eine nach der Dublin-III-Verordnung angeordnete Haft.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Asylantrag, Sicherungshaft, Fluchtgefahr, Täuschungshandlung, Täuschung über Identität, Unionsrecht,
Normen: AsylG § 55, AsylG § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, AufenthG § 2 Abs. 15 Satz 1, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 2, VO 604/2013 Art. 28
Auszüge:

[...]

2. Ohne Rechtsfehler bejaht das Beschwerdegericht ferner einen Haftgrund.

a) Wie es zutreffend sieht, handelt es sich hier um eine Haftanordnung zur Sicherung der Zurückschiebung im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (fortan: Dublin-III-Verordnung). Gemäß Art. 28 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 Buchst. n dieser Verordnung kommt insoweit nur der Haftgrund einer erheblichen Fluchtgefahr in Betracht. Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchst. n der Dublin-III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zur der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Da § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF diesen Anforderungen nicht genügte (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 20 ff.), hat der deutsche Gesetzgeber in § 2 Abs. 15 AufenthG die Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr festgelegt.

b) Bereits entschieden hat der Senat, dass § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG den Anforderungen von Art. 2 Buchst. n der Dublin-III-Verordnung genügt und Grundlage für die Anordnung von Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung sein kann (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2016 - V ZB 157/15, juris Rn. 15 ff.). Entsprechendes gilt für § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG, auf die das Amtsgericht und das Beschwerdegericht die Haft gestützt haben.

aa) Gemäß § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG können konkrete Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer über seine Identität täuscht, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität. Hiermit hat der Gesetzgeber einen Umstand ausdrücklich aufgeführt, der schon nach der bisherigen Rechtsprechung den Verdacht einer Entziehungsabsicht begründen konnte. Entsprechende Täuschungshandlungen können einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass sich der Ausländer der Aufenthaltsbeendigung durch Flucht entziehen wird (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 202/09, juris Rn. 12; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 15; siehe auch Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 26).

bb) Dass die Täuschungshandlungen sowohl nach dem Wortlaut der Vorschrift ("können") als auch nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 32) lediglich ein Indiz dafür darstellen, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr besteht, eine Prüfung im Einzelfall aber nicht ersetzen können (vgl. auch Beichel-Benedetti, NJW 2015, 2541, 2545), widerspricht den Anforderungen des Art. 2 Buchst. n der Dublin-III-Verordnung nicht. Zu einer weiteren Präzisierung des in § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG aufgeführten Kriteriums war der Gesetzgeber nicht verpflichtet (a. A. Klein, InfAuslR 2015, 341, 342). Ausweislich der Begründung des Entwurfs der Verordnung durch die Europäische Kommission soll das Erfordernis der Festlegung der Tatbestände durch den nationalen Gesetzgeber "sicherstellen, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern auf der Grundlage des Dublin-Verfahrens nicht willkürlich erfolgt" (vgl. BR-Drs. 965/08 S. 6). Dies wird aber auch dann gewährleistet, wenn nicht - gleichsam automatisch - bei jeder Identitätstäuschung des Ausländers zwingend auf eine Entziehungsabsicht geschlossen wird (vgl. zu dem Erfordernis der Einzelfallprüfung trotz Vorliegens eines Anhaltspunkts i.S.d. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG Senat, Beschluss vom 25. Februar 2016 - V ZB 157/15, juris Rn. 18).

cc) Der Senat ist nicht verpflichtet, die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV vorzulegen, da die zitierten Vorschriften der Verordnung klar und eindeutig sind. Bei solchen Vorschriften besteht eine unionsrechtliche Pflicht zur Vorlage nicht (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81 - C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16).

c) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Schluss des Beschwerdegerichts von der - rechtsfehlerfrei festgestellten - Identitätstäuschung i.S.d. § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG auf eine erhebliche Fluchtgefahr des Betroffenen von Rechts wegen nicht zu beanstanden. [...]

3. Rechtsfehlerhaft ist die Entscheidung des Beschwerdegerichts, weil es nicht geprüft hat, ob der Anordnung der Haft § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG (= § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG) entgegenstand. Die hierzu notwendigen Feststellungen hat es verfahrenswidrig (§ 26 FamFG) nicht getroffen.

a) aa) Nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG erwirbt ein Ausländer bei einer Einreise aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder aus einem anderen sicheren Drittstaat mit der Stellung eines Asylantrags eine Aufenthaltsgestattung. Eine solche Gestattung begründet ein von Amts wegen zu beachtendes Hafthindernis (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rn. 20; Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, FGPrax 2011, 39 Rn. 18).

bb) Gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG (= 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG) steht allerdings die Asylantragstellung der Anordnung oder Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft unter anderem dann nicht entgegen, wenn sich der Ausländer im Zeitpunkt der Antragstellung in Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a bis 5 Aufenthaltsgesetzes befand. Der bloße Polizeigewahrsam genügt hierfür nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 1. März 2012 - V ZB 206/11, FGPrax 2012, 133 Rn. 11). [...]

aa) Auf den Zeitpunkt der Antragstellung kommt es entscheidend an, weil Sicherungshaft i.S.d. § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG (= § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG) auch eine nach der Dublin-III-Verordnung angeordnete Haft ist. Wäre der Asylantrag aus der Haft gestellt worden, stünde er der Haftanordnung deshalb nicht entgegen. Andernfalls wäre die Haftanordnung rechtswidrig.

(1) Unter der Geltung der Verordnung (EU) Nr. 343/2003 (Dublin-II-Verordnung) war anerkannt, dass § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG auch die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung eines Ausländers als eine Form der Abschiebungshaft i.S.d. § 62 Abs. 3 AufenthG erfasst (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510 Rn. 13). Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, NVwZ-RR 2009, 616, 617). Nach dem gesetzgeberischen Anliegen sollte die Vorschrift auch sicherstellen, dass Ausländer, die im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens möglichst rasch in den für das Asylverfahren zuständigen Staat verbracht werden sollten, nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden und untertauchen (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 215; Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510 Rn. 13; Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 30).

(2) An dieser Funktion des § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG (jetzt: AsylG) hat sich mit dem Inkrafttreten der Dublin-III-Verordnung nichts geändert. Der entscheidende Unterschied zur Dublin-II-Verordnung besteht vielmehr darin, dass das Gemeinschaftsrecht nunmehr selbst Vorschriften für die Inhaftnahme von Ausländern zum Zweck der Überstellung enthält (Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung: erhebliche Fluchtgefahr) und die nationalen Gesetzgeber gemäß Art. 2 Buchstabe n der Verordnung gehalten sind, durch Gesetz die Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr zu regeln. Diesen Anforderungen genügte die bisherige Fassung des § 62 Abs. 3 Nr. 5 AufenthG, wie dargelegt, nicht (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 20 ff). (Nur) aus diesem Grunde kam auch eine Anwendung des § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG nicht in Betracht, wenn die Haft zur Sicherung eines Überstellungsverfahrens auf den Haftgrund des § 62 Abs. 3 Nr. 5 AufenthG gestützt wurde.

(3) Nachdem der Gesetzgeber die Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr festgelegt hat und die Haft nach der Dublin-III-Verordnung somit angeordnet werden kann, stehen auch der Anwendung des § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG keine Gründe mehr entgegen. Dass in der neuen Fassung des von § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG in Bezug genommenen § 62 Abs. 3 Nr. 5 AufenthG die Haftanordnung nach der Dublin-III-Verordnung nicht ausdrücklich erwähnt ist, sondern in § 2 Abs. 15 AufenthG nF eine eigenständige Regelung erfahren hat, ändert hieran nichts. Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 31 f.), zielte die Neufassung (nur) auf die Festlegung der objektiven Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung. Dass nunmehr entgegen der früheren Rechtslage die Stellung eines Asylantrags aus der Haft heraus die sofortige Freilassung des Betroffenen zur Folge haben sollte, war erkennbar nicht gewollt.

(4) Dass § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG auf die Haft nach der Dublin-III-Verordnung anwendbar ist, ergibt sich mittelbar auch aus der Regelung in § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG. Nach dieser Vorschrift endet die Abschiebungshaft mit der Zustellung der Entscheidung des Bundesamtes, spätestens jedoch vier Wochen nach Eingang des Asylantrags beim Bundesamt, es sei denn, es wurde auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren ein Auf- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen anderen Staat gerichtet oder der Asylantrag wurde als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die in dem zweiten Halbsatz der Vorschrift enthaltene Ausnahme bezieht sich unter anderem auf Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung. Einer solchen Ausnahme bedürfte es aber nicht, wenn diese Fälle von § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG nicht erfasst würden.

bb) Ob der Betroffene den Asylantrag aus der Haft gestellt hat, so dass § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG eingreift und ein Hafthindernis gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht besteht, bedarf weiterer Feststellungen.

(1) Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt, zu dem der förmliche Asylantrag (§ 14 AsylG) bei dem zuständigen Bundesamt eingegangen ist. Demgegenüber genügt ein Asylgesuch nach § 13 Abs. 1 AsylG gegenüber der Grenzbehörde noch nicht, um eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG zu erwerben (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, FGPrax 2011, 39 Rn. 19; Beschluss vom 1. März 2012 - V ZB 206/11, FGPrax 2012, 133 Rn. 10; Beschluss vom 25. Februar 2016 - V ZB 171/13, juris Rn. 10). [...]