Eine Trennung von ihrem Ehemann kann für eine Frau in Afghanistan im Einzelfall zu einem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden ernsthaften Schaden führen.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
18 Aufgrund des nachvollziehbar und anschaulich geschilderten Vorbringens der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass sie sich von ihrem Ehemann ernsthaft getrennt hat und dass ihr deswegen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden in Form einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG bis hin zu einer Tötung durch die Familienangehörigen ihres Ehemannes droht. Die Klägerin zu 1. hat angegeben, dass ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Trennung von ihrem Mann und ihrer westlichen Lebensweise in der Bundesrepublik Deutschland die Tötung durch Familienangehörige ihres Ehemannes drohe. Bei ihnen handelt es sich auch um Akteure, von den Verfolgung ausgehen kann, weil weder der afghanische Staat, noch sonstige Organisationen willens bzw. in der Lage sind, der Klägerin zu 1. Schutz vor dem drohenden ernsthaften Schaden zu bieten, § 4 Abs. 3 i.V.m. §§ 3c Nr. 3, 3 d AsylG.
19 Für Frauen hat sich die Situation in Afghanistan zwar seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 19.10.2016, S. 13 ff.). Dies zeige auch das Straßenbild Kabuls, wo sich einige noch von Kopf bis Fuß in einen Tschador kleiden, viele andere sich jedoch westlich anziehen und zur Arbeit oder zur Schule gehen (www.dw.com/de, Afghanische Mädchen durchbrechen Cyber-Grenzen, v. 19.04.2017). Dennoch wird Afghanistan weiterhin als ein für Frauen und Mädchen sehr gefährliches Land betrachtet (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 65). Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist weit verbreitet und bleibt üblicherweise straflos (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 66). Es wird geschätzt, dass mehr als 87 % aller afghanischen Frauen bereits körperliche, sexuelle, psychologische Gewalt oder eine Zwangsheirat erfahren mussten, mehr als 60 % der afghanischen Frauen sind mehreren Formen der teils auch äußerst brutalen Gewalt ausgesetzt (Nds. OVG, Urt. v. 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 33). Den Behörden fehlt der Wille zur Umsetzung zwischenzeitlich bestehender Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 67). Besonders gefährdet sind Frauen und Mädchen in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 68). Die Diskriminierung von Frauen ist tief verwurzelt (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 66). Frauen im öffentlichen Leben und in öffentlichen Ämtern werden bedroht, eingeschüchtert und gewaltsam angegriffen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 45 f.). Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet, vor allem innerhalb der Familienstrukturen, aber auch im beruflichen Umfeld etwa innerhalb des Sicherheitssektors (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 19.10.2016, S. 14 f.). Im ersten Halbjahr 2016 dokumentierte die UNAMA sechs Fälle von Hinrichtungen oder Auspeitschungen von Frauen wegen moralischer Vergehen (Amnesty Report 2017 Afghanistan, S. 23). Trotz Fortschritten treffen Armut und Analphabetismus Frauen besonders (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, v. 30.09.2016, S. 17).
20 Auch unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse ist das Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin zu 1., die keine Familienangehörigen in Afghanistan hat, infolge der Trennung von ihrem Ehemann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan schwerste Sanktionen durch dessen Familienangehörige drohen, zumal in ihrem Verhalten auch eine Ehrverletzung des Ehemannes und seiner Familie bzw. ihrer eigenen Familie gesehen werden könnte. Eine Frau ist in Afghanistan regelmäßig Besitz, sogar Ware, und sie verkörpert die 'Ehre' der Familie, die unbedingt beschützt werden muss (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von Witwen (Schutz, Arbeit, Wohlfahrtsstrukturen), v. 26.08.2016). Angriffe auf die Ehre oder die körperliche Integrität einer Person erfordern in Afghanistan eine Rachereaktion, um das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen den Personen und Gruppen ("badal") sowie die Ehre wieder herzustellen; daraus kann sich eine Blutfehde entwickeln (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den "Täter" ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden?; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen, v. 23.02.2017, S. 3). “). Die Unfähigkeit, eine Tat zu vergelten, wird als Zeichen moralischer Schwäche angesehen und kann zur Wahrnehmung führen, dass es der ganzen Verwandtschaftsgruppe an moralischem Charakter fehle (Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den "Täter" ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden?; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen, v. 23.02.2017, S. 5; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, v. 07.06.2017, S. 2). Der Betroffene kann sein soziales Prestige verlieren (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Blutrache, v. 25.08.2014, S. 1). Frauen, die ihre Männer verlassen werden in Afghanistan auch immer wieder sogenannter moralischer Verbrechen bezichtigt, was bei einer entsprechenden Verurteilung zu mehrjährigen Haftstrafen führen kann; wenn sie des außerehelichen Geschlechtsverkehrs bezichtigt werden (Zina), droht ihnen sogar eine Tötung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, v. 22.01.2016; vgl. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 69)). So richteten Taliban etwa am 19. Dezember 2016 eine Frau hin, weil sie nach dem Weggang ihres Mannes in den Iran einen anderen Mann geheiratet und sich ihr früherer Ehemann an die Taliban gewandt hatte (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes v. 19.12.2016). Nach dem Paschtunwali kann sich ein Mann zwar von seiner Frau nach der Hochzeit scheiden lassen, der Frau steht ein solches Recht jedoch nicht zu (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Dossier der Staatendokumentation, AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, S. 53). Den Paschtunen ist allein schon die Vorstellung von Talaq (Scheidung) ein Horror; das Wort Zantalaq (ein Mann, der sich von seiner Frau geschieden hat) gilt als Beleidigung und widerspricht dem Ehrbegriff der Paschtunen und kann zu Mord und Blutfehden führen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Dossier der Staatendokumentation, AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, S. 58). Nach der Scharia wäre ein Mädchen hingegen berechtigt, notfalls eine Scheidung von ihrem Mann zu verlangen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Dossier der Staatendokumentation, AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, S. 53). Ein Verhalten einer Frau, das intern in der Familie als Schande angesehen wird, kann auch zu ihrer Tötung durch die eigene Familie führen ("Ehrenmord"; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den "Täter" ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden?; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen, v. 23.02.2017, S. 3 f.). Zwar regelt das schiitische Personenstandsgesetz auch eine Scheidung (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 67), dies schließt - auch unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen - einen der Klägerin zu 1. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden ernsthaften Schaden jedoch im vorliegenden Fall nach der Auffassung des Gerichts nicht aus. Allein ein Gesetz vermag der Klägerin zu 1. keinen wirksamen Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten.
21 Die Klägerin zu 1. vermag weder Schutz durch den Staat oder Dritte zu erlangen, noch stünde ihr eine inländische Fluchtalternative (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG) zur Verfügung. Schutz können Frauen in größeren Städten theoretisch zwar in Frauenhäusern finden, diese verfügen jedoch nicht über ausreichend Plätze (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, v. 30.09.2016, S. 18); auch ist ein Leben außerhalb im Anschluss regelmäßig nicht mehr möglich (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 19.10.2016, S. 15). Das Gesundheitsministerium verzeichnete von März 2014 bis Juni 2015 mehr als 9.000 Fälle von versuchtem Selbstmord (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, v. 30.09.2016, S. 18). Geschlechtsspezifische Gewalt gehört zu den häufigsten Gründen für Selbstmord und Selbstverbrennung bei Frauen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 68 Fn. 380). Staatlicher Schutz ist für Frauen insoweit nicht zu erlangen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 69; BT-Drs. 18/10336, 18. Wahlperiode 16.11.2016, Frage Nr. 28). Das Justizsystem funktioniert in Afghanistan nur sehr eingeschränkt (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 5). Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 28; SFH, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15). Der Islamvorbehalt in der Verfassung, tradierte Moralvorstellungen, Einflussnahmemöglichkeiten durch Verfahrensbeteiligte und Unbeteiligte sowie Zahlungen von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 12; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, v. 07.06.2017, S. 6 f.). Auch innerhalb der Polizei ist Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 29, vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, v. 07.06.2017, S. 6; www.deutschlandfunk.de, Hauptursache der schlechten Sicherheitslage, v. 14.06.2017). Korruption ist im gesamten Justizwesen weit verbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit strafrechtlicher Verfolgung und Freilassungen aus dem Gefängnis (Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den "Täter" ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden?; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen, v. 23.02.2017, S. 7; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, v. 07.06.2017, S. 6). Auch Angst vor Strafaktionen von religiösen Extremisten führt zu polizeilicher Zurückhaltung (ACCORD, Dokumentation des Expertengespräches mit T. R. und M. D., v. 06.2016, S. 13 f.). Zudem ist das Justizwesen unterfinanziert und personell unterbesetzt (SFH, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15). So findet etwa auch eine polizeiliche Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an Jugendlichen und Kindern nicht statt (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 13) und auch die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen bleibt üblicherweise straflos (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 66). Dies gelte auch für internen Schutz (BT-Drs. 18/10336, 18. Wahlperiode 16.11.2016, Frage Nr. 28). Auch auf lokale Machthaber ohne staatliche Befugnisse hat die Zentralregierung kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen und verurteilen, so dass Sanktionen häufig ausbleiben (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 17; vgl. auch SFH, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15). Eine parallele Rechtsprechung einschließlich der damit verbundenen Strafsanktionen bis hin zu Exekutionen wird kaum bis gar nicht verfolgt (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 21; vgl. auch SFH, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 29). Täter von Menschenrechtsverletzungen werden selten zur Rechenschaft gezogen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 29). In ländlichen Gebieten zeigen sich dabei deutlich mehr Schwächen als in städtischen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, v. 19.04.2016, S. 28; SFH, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15; ACCORD, Dokumentation des Expertengespräches mit T. R. und M. D., v. 06.2016, S. 17). Die Klägerin kann sich auch nicht in einem anderen Landesteil niederlassen und dort Schutz vor dem drohenden Schaden finden. Ein Leben für ledige Frauen ist außerhalb eines Familienverbandes kaum realistisch (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 19.10.2016, S. 16). Selbst in städtischen Gebieten sind alleinstehende Frauen regelmäßig nicht in der Lage, ein Leben ohne unangemessene Härte zu führen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.04.2016, S. 98; vgl. auch VG Augsburg, Urt. v. 01.12.2016 - Au 5 K 16.31914 -, juris Rn. 24), zumal die Klägerin Analphabetin ist und drei minderjährige Kinder zu versorgen hat. [...]