VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 28.06.2017 - 3 A 4969/16 - asyl.net: M25447
https://www.asyl.net/rsdb/M25447
Leitsatz:

Yeziden aus der Region Sindjar waren im Sommer 2014 einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Im Einzelfall kann eine inländische Fluchtalternative in die Autonome Region Kurdistan angenommen werden (hier verneint).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Ninive, Sindjar, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

28 Die Geschehnisse im Nordirak in der Provinz Ninive im Sommer 2014, bei welchen der IS unter anderem die von den Yeziden bewohnten Ortschaften in der Region um Sindjar, zu welcher der Wohnort Ghubal der Kläger gehört, unter seine Kontrolle gebracht und die überwiegende Mehrheit der Einwohner vertrieben und eine erhebliche Anzahl an Yeziden getötet oder entführt hat, entsprechen zur Überzeugung des Gerichts den Anforderungen an eine Gruppenverfolgung (so auch VG Hannover, Urteil vom 15. August 2014 - 6 A 9853/14 - juris). Im Rahmen einer Offensive am 3. August 2014 hat der IS die Stadt Sindjar und das nördlich anschließende Gebirge erobert. Da die Yeziden den Angriffen durch den IS nach dem Rückzug der dort stationierten Peschmerga schutzlos ausgeliefert waren, flohen etwa 300.000 bis 400.000 Yeziden aus der Region (die Zahlen schwanken je nach Quelle, vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12 sowie ACCORD, Anfragebeantwortung: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen vom 2. Februar 2017). Etwa 40.000 - 60.000 Yeziden begaben sich ins Sindjar-Gebirge, wo sie vom IS umzingelt wurden und erst durch das Eingreifen von PKK-Kämpfern und einen von diesen geschaffenen Korridor über Syrien in die Autonome Region Kurdistan fliehen konnten. Im Verlauf der Angriffe durch den IS wurden in Sindjar und den yezidischen Dörfern der Region zwischen 5000 und 7000 Yeziden vom IS ermordet, tausende junge Yezidinnen wurden entführt und befinden sich teilweise heute noch in den Händen des IS. Das Europäische Parlament hat die Übergriffe des IS auf die religiösen Minderheiten im Irak als Genozid bewertet (vgl. ausführlich Oehring, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven vom 14. Juni 2017, Seite 20 ff.; Zeit online vom 13. Juni 2016, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesidennordirak- islamischer-staat; Lagebericht, Seite 12 sowie ACCORD vom 2. Februar 2017). Angesichts der Tatsache, dass von den ursprünglich etwa 450.000 bis 500.000 in Ninive und Dohuk lebenden Yeziden etwa 75 % - also etwa 375.000 Personen - im traditionellen Siedlungsgebiet Sindjar (inkl. des Subdistrikts al-Khataniya) zwischen Mosul und der syrischen Grenze lebten (vgl. hierzu ausführlich Urteil vom 3. Juni 2014 - 3 A 4590/13 - V.n.b.) und sich nach dem Einmarsch des IS lediglich noch etwa 40.000 Yeziden und damit nur ca. 10,7 % der ursprünglichen Bevölkerung in der Region Sindjar aufhalten sollen (so Zeit online vom 13. Juni 2016) und die weit überwiegende Mehrheit der yezidischen Bevölkerung vertrieben, getötet oder entführt worden ist, ist von einer hinreichenden Verfolgungsdichte auszugehen. Eine Gruppenverfolgung der Yeziden aus Sindjar ist damit jedenfalls für den Zeitpunkt der Flucht der Kläger aus Ghubal im August 2014 mithin anzunehmen. [...]

30 Die Tatsache, dass die Kläger bereits verfolgt wurden, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass sie tatsächlich Gefahr laufen, im Falle einer Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009, a.a.O., Rn. 18).

31 Aufgrund der derzeitigen politischen Lage im Irak kann vielmehr nicht davon ausgegangen werden, dass Yeziden in der Provinz Ninive keine Gefahr mehr durch den IS droht. Die Stadt Sindjar und das Gebirge sind zwar seit November 2015 unter Kontrolle der Peschmerga und der PKK, allerdings verläuft die Front weiterhin unmittelbar südlich von Sindjar, so dass erneute Übergriffe auf die religiösen Minderheiten in der Region und damit auch die Yeziden nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Noch Ende Oktober 2016 fanden Kampfhandlungen zwischen dem IS und den in Sindjar stationierten Peschmerga statt (vgl. Oehring, Seite 22). [...]