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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 28.06.2017 - 1 A 241/16 - asyl.net: M25448
https://www.asyl.net/rsdb/M25448
Leitsatz:

[Aufenthaltstitel aus familiären Gründen trotz möglicher Scheinvaterschaft:]

§ 27 Abs. 1a AufenthG steht dem Familiennachzug der ausländischen Mutter zu ihrem deutschen Kind nicht entgegen, auch wenn ein Deutscher die Vaterschaft nur deshalb anerkannt haben sollte, um Mutter und Kind ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu verschaffen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vaterschaftsanerkennung, deutsches Kind, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung, Scheinvaterschaft, Staatsangehörigkeitsrecht, Visum, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Absehen,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1, StAG § 4 Abs. 1 S. 1, StAG § 4 Abs. 1 S. 2, BGB. § 1592 Nr. 2, RL 2003/86/EG Art. 16 Abs. 2 Bst. b, AufenthG § 27 Abs. 1, GG Art. 6, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthV § 39, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrem minderjährigen Sohn U. V. nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (hierzu 1.). Ihr steht aber kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern nur auf Neubescheidung über ihren Antrag zu, weil sie jedenfalls derzeit die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG nur zum Teil erfüllt (hierzu 2.).

1.

21 1.1. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier vor. Das Kind U. hat durch die Vaterschaftsanerkennungserklärung des Deutschen W. V. durch Geburt nach § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 StAG i.V.m. § 1592 Nr. 2 BGB wegen der Abstammung von einem deutschen rechtlichen Vater die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Die Klägerin ist ausländische Mutter des deutschen Kindes U. V. und zur Personensorge berechtigt.

22 1.2. Dem steht auch nicht der Versagungsgrund des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG entgegen. [...]

23 Ob hier ein Fall der Scheinvaterschaftsanerkennung vorliegt, wie der Beklagte auf Grundlage zahlreicher und im Verwaltungsvorgang des Beklagten im Einzelnen nachzuvollziehender Anhaltspunkte meint, ist unerheblich. Ausländerrechtlich ist der mögliche Umstand, dass W. V. die Vaterschaft des Kindes U. nur deshalb anerkannt haben könnte, um der Klägerin einen Aufenthaltstitel zu verschaffen, nicht zu verwerten.

24 Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 17.12.2013 - 1 BvL 6/10 - (BVerfGE 135, 48 ff.) die Regelung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB wegen Verfassungswidrigkeit nach § 78 Satz 1 BVerfGG für nichtig erklärt hat, haben Behörden keine Handhabe mehr gegen Scheinvaterschaftsanerkennungen, die allein den auch hier von dem Beklagten vermuteten Zweck haben. Es gilt der abschließende Katalog der Anfechtungsberechtigten nach § 1600 Abs. 1 BGB, zu denen die Behörden nicht mehr zählen. Eine Vaterschaftsanerkennung ist damit nicht mehr von den Behörden aus der Welt zu schaffen. Der Gesetzgeber hat nunmehr Abhilfe geschaffen, allerdings nur für die Zukunft. [...]

25 Es ist von der Kammer nicht weiter aufzuklären, ob hier eine Scheinvaterschaft vorliegt, deren ausschließlicher Zweck darin besteht, der Klägerin einen Aufenthaltstitel zu verschaffen. Der Fall der Scheinvaterschaft, die der leiblichen ausländischen Mutter des durch Anerkennung deutschen Kindes einen Aufenthaltstitel verschafft, fällt nicht in den Anwendungsbereich von § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 20.10.2015 - 19 C 15.820 -, juris; VG Magdeburg, Urt. v. 31.03.2016 - 4 A 573/15 -, juris; VG Aachen, Urt. v. 24.02.2016 - 8 K 247/14 -, juris, jeweils m.w.N.; Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 27 AufenthG, Rz. 20).

26 Dafür sprechen schon die europarechtliche Genese der Vorschrift und das damit verbundene erkennbare Regelungsziel des Gesetzgebers: [...]

30 Jedenfalls für die hier vorliegende Konstellation, in der die leibliche Mutter ausländerrechtliche Vorteile aus der (der Vaterschaftsanerkennung folgenden) deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes ziehen will, spricht auch der Wortlaut von § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG gegen eine erweiternde Auslegung. Denn das Verwandtschaftsverhältnis zwischen leiblicher Mutter und Kind wird nicht (durch Willenserklärung) "begründet", sondern besteht von Gesetzes wegen (§ 1591 BGB).

31 Für den Gesetzgeber gab es auch keinen Anlass, über die Umsetzung von Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie hinaus auch Scheinvaterschaften in den Anwendungsbereich von § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG einzubeziehen: [...]

34 Die Kammer folgt damit nicht der Meinung in Rechtsprechung und Literatur, die den Fall der Scheinvaterschaftsanerkennung in den Anwendungsbereich des § 27 Abs. 1a AufenthG fallen lassen will (vgl. für den Fall des Nachzugs des Vaters zum deutschen Kind OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 06.03.2008 - 7 A 11276/07 -, juris; OVG NW, Urt. v. 23.08.2012 - 18 A 537/11 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 04.11.2014, a.a.O.; für den Fall des Nachzugs der Mutter zum deutschen Kind VG Oldenburg, Urt. v. 22.04.2009 - 11 A 389/08 -, juris, Anspruch aus § 25 Abs. 5 AufenthG bejahend; VG Ansbach, Urt. v. 24.03.2016 - AN 5 K 14.00428 -, juris; Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 1, Stand: 100. EL März 2017, § 27 Rz. 54 ). [...]

36 Jedenfalls für die hier gegebene Konstellation, in der die leibliche Mutter den Familiennachzug zu ihrem deutschen Kind begehrt, überzeugt das Wortlautargument nicht. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen leiblicher Mutter und ihrem Kind wird, wie ausgeführt, nicht "begründet", sondern besteht von Gesetzes wegen nach § 1591 BGB ("Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat."). [...]

37 1.3. Dem Familiennachzug steht vorliegend auch nicht § 27 Abs. 1 AufenthG entgegen. Danach wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert. Zwischen der Klägerin und ihrem Kind U. besteht unstreitig eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet. [...]

39 2. Der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu einem deutschen Kind gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfordert neben dem Vorliegen der dort genannten Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich auch, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufentG erfüllt sind. Das ist hier in Bezug auf die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG der Fall (hierzu 2.1.), nicht aber in Bezug auf die zwingende Voraussetzung, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist (hierzu 2.2.). Etwas anderes gilt nur, wenn der Ausländer nach § 39 AufenthV berechtigt ist, die Aufenthaltserlaubnis nach Einreise einzuholen, oder ein Absehen von der Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Betracht kommt. Letzteres ist hier der Fall (hierzu 2.3.). [...]