VG Greifswald

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Zitieren als:
VG Greifswald, Urteil vom 04.05.2017 - 3 A 347/16 As HGW - asyl.net: M25465
https://www.asyl.net/rsdb/M25465
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für eine Lehrerin aus Logar (Afghanistan).

1. Angehörigen von Mitarbeitern ausländischer Organisatonen oder mit Ausländern kooperierender Unternehmen

drohen in Afghanistan Vergeltungsmaßnahmen durch Taliban.

2. Ihnen ist subsidiärer Schutz zu gewähren.

3. Es besteht keine Fluchtalternative.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Logar, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Berufsgruppe, Lehrerin, subsidiärer Schutz, internationale Organisation, interne Fluchtalternative, Sippenhaft, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, Familienangehörige, interner Schutz,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

31 2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung des hilfsweise geltend gemachten subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG, über den wegen des im Hauptantrag ausbleibenden Erfolgs der Klage zu entscheiden ist. [...]

39 b) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Das Gericht geht davon aus, dass auch Angehörigen von Mitarbeitern internationaler Streitkräfte oder Organisationen in Afghanistan Vergeltungsmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure drohen (VG Greifswald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As). Dasselbe gilt für Mitarbeiter von Unternehmen, die für ausländische Auftraggeber tätig werden, da auch deren Mitarbeiter im Fokus der Taliban stehen (VG Greifswald, Urt. v. 29.03.2017 – 3 A 1164/16 As).

40 Das erkennende Gericht geht zunächst davon aus, dass Mitarbeitern der in Afghanistan aktiv gewesenen oder aktiven ausländischen Streitkräfte oder Organisationen eine Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere Taliban, droht. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass diese Personen eine besondere Risikogruppe darstellen. Danach greifen regierungsfeindliche Kräfte Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte gearbeitet haben an und bedrohen diese. Betroffen sind dabei sowohl Personen, die mit den internationalen Schutztruppen zusammengearbeitet haben, als auch solche, die in Kontakt zu den nationalen Sicherheitskräften standen. Sie werden der Spionage verdächtigt. Es ist eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen in denen regierungsfeindliche Kräfte Personen, die der Zusammenarbeit mit regierungstreuen Kräften verdächtigt wurden, ermordet oder verstümmelt haben (vgl. UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 38 f.). In seiner neuesten Stellungnahme geht der UNHCR weiterhin davon aus, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen ein besonderes Risikoprofil aufweisen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016, Seite 1). Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt unter Bezugnahme auf Medienberichte aus, dass lokale Mitarbeitende der ausländischen Sicherheitskräfte, darunter Übersetzer oder Wachpersonal, von regierungsfeindlichen Gruppierungen bedroht und angegriffen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 13. September 2015, S. 17). Nach den Erkenntnissen des Gerichts beschränken sich derartige Übergriffe allerdings nicht ausschließlich auf die jeweiligen Mitarbeiter selbst. Stattdessen gehört es zu einem Grundsatz der Taliban, sowohl die von ihnen in ihrem politischen Kampf um die Macht in Afghanistan bekämpften Personen selbst, also die Mitarbeiter der internationalen Schutztruppen, als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen (vgl. VG München, Urt. v. 23.06.2015 – M 24 K 15.30012 –, juris Rn. 25; UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 39).

41 Nach Auffassung des Gerichts genügt allein der Umstand, dass – wie die Beklagte in den jeweiligen Verwaltungsverfahren festgestellt hat - zwei – inzwischen als Flüchtlinge anerkannte - Brüder der Klägerin für die UN oder eine internationale ausländische Organisation bzw. für eine Mobilfunkgesellschaft, die die ISAF (International Security Assistance Force) unterstützt hat, tätig gewesen sind, um sie selbst in die konkrete Gefahr der Verfolgung durch die Taliban zu bringen.

42 Die Klägerin hat vorgetragen, wie die Taliban auf der Suche nach ihrem Bruder in ihr Haus eingedrungen sind und sie dabei selbst Opfer einer Gewalttat wurde. Sie gab bei der Anhörung bei der Beklagten an, dass die Verfolgung der Brüder ausschlaggebend für die Ausreise gewesen sei.

43 Nach der Rechtsprechung des Gerichts wird zwar den Angehörigen der Mitarbeiter oben genannter Organisationen nicht selbst der Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung zugeschrieben; die drohenden Vergeltungsmaßnahmen der Taliban rechtfertigen jedoch die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (VG Greifswald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As).

44 Die der Klägerin drohenden Vergeltungsakte erreichen das für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG notwendige Mindestmaß an Schwere. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln folgt nämlich, dass der Klägerin Behandlungen drohen, die bis zur Verstümmelung und Ermordung reichen (vgl. UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 39).

45 Die Taliban sind auch als nicht staatlicher Akteur im Sinne von §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c Nr. 3 AsylG zu qualifizieren.

46 Die Klägerin kann auch nicht auf internen Schutz nach §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG verwiesen werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin andernorts in Afghanistan, auch nicht in der Hauptstadt Kabul, vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Das ergibt sich aus den Erkenntnissen des Gerichts, wonach die Taliban auch in Kabul Personen aufspüren können, da sie dort über Informationsnetzwerke verfügen (vgl. Danesch, Gutachten vom 30. April 2013 an OVG Lüneburg - 9 LB 2/13 -, S. 6). Ebenso wenig wird der Klägerin durch einen tauglichen Akteur im Sinne von §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG wirksamer und nicht nur vorübergehenden Schutz geboten. [...]