EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 13.07.2017 - C-193/16 - asyl.net: M25481
https://www.asyl.net/rsdb/M25481
Leitsatz:

Ausweisung als Nebenstrafe unionsrechtskonform:

Unionsbürger*innen können auch dann wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden, wenn sie  in Haft sind und eine Freilassung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Ausweisung, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Straftat, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Grundinteresse der Gesellschaft, Haftstrafe, Wiederholungsgefahr, Gefahrenprognose, Generalpräventiver Zweck,
Normen: RL 38/2004 Art. 27 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

22 Aus dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nämlich, dass bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf.

23 Ferner setzt eine Ausweisungsverfügung nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie voraus, dass dieses Verhalten eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (Urteil vom 22. Mai 2012, I, C-348/09, EU:C:2012:300, Rn. 30).

24 Dass sich der Betroffene zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung in Haft befindet und seine Entlassung erst in einigen Jahren zu erwarten ist, kann jedoch nicht als Umstand angesehen werden, der einen Bezug zum persönlichen Verhalten des Betroffenen hat.

25 Darüber hinaus sieht Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vor, dass der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisungsverfügung als Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe erlassen kann, wenn die sich u. a. aus Art. 27 dieser Richtlinie ergebenden Voraussetzungen eingehalten werden. Der Unionsgesetzgeber hat somit ausdrücklich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten gegen eine zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person eine Ausweisungsverfügung verhängen können, wenn erwiesen ist, dass das Verhalten dieser Person eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt.

26 Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits über Vorlagefragen zur Auslegung der Richtlinie 2004/38 zu entscheiden hatte, die im Rahmen von Rechtssachen vorgelegt wurden, in denen es um eine zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person ging und zu prüfen war, unter welchen Bedingungen das Verhalten dieser Person als Rechtfertigung für den Erlass einer gegen sie gerichteten Ausweisungsverfügung angesehen werden kann (vgl. Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, und vom 22. Mai 2012, I, C-348/09, EU:C:2012:300).

27 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass sich eine Person zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, es nicht ausschließt, dass ihr Verhalten gegebenenfalls eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt. [...]