1. Die Verlustfeststellung gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU kann nicht nur dann getroffen werden, wenn das Freizügigkeitsrecht ursprünglich bestanden hat und später entfallen ist, sondern auch dann, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu keinem Zeitpunkt bestanden haben.
2. Der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU steht es grundsätzlich nicht entgegen, dass das erzielte Arbeitseinkommen unter dem Existenzminimum liegt oder dass die normale Arbeitszeit zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt.
(Amtliche Leitsätze, vgl. zu LS 1) BVerwG, Entscheidung vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 352 ff.) - asyl.net: M23134, Rn. 15)
[...]
10 Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) - vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), in der hier maßgeblichen zuletzt durch Gesetz vom 8. Juni 2017 (BGBl. I S. 1570) geänderten Fassung (vgl. zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts bei der Anfechtung einer Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts: BVerwG, Urt. v. 16.7.2015 - BVerwG 1 C 22.14 -, NVwZ-RR 2015, 910, 911; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.7.2013 - 8 LA 148/12 -, juris Rn. 12 mit weiteren Nachweisen), kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen dieses Rechts innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese Voraussetzen nicht vorliegen. Die durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014 (BGBl. I S. 1922) vorgenommene Änderung des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stellt klar, dass eine Verlustfeststellung nicht nur getroffen werden kann, wenn das Freizügigkeitsrecht ursprünglich bestanden hat und später entfallen ist, sondern auch dann, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu keinem Zeitpunkt bestanden haben (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften, BT-Drs. 18/2581, S. 16; BVerwG, Urt. v. 16.7.2015, a.a.O., S. 912). [...]
13 Der Begriff des "Arbeitnehmers" ist unionsrechtlich auszulegen. Er ist weit zu verstehen und nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urt. v. 19.6.2014 - C 507/12 -, Saint Prix, juris Rn. 33 ff.; Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 23 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit nur von kurzer Dauer ist, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 30 und 32 (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Aufenthaltsdauer von zweieinhalb Jahren und einer Beschäftigungszeit von zweieinhalb Monaten)). Als Arbeitnehmer kann jedoch nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010 - C-14/09 -, Genc, Rn. 9 und 23 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 EUR); Urt. v. 3.6.1986 - 139/85 -, Kempf, Rn. 11 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 12 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 984 HFL bzw. 447 EUR). Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen. Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, sind für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft hingegen ohne Bedeutung, da sie in keiner Beziehung zu den objektiven Kriterien stehen, die das konkrete Arbeitsverhältnis charakterisieren (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 29 und 32).
14 Nach der danach gebotenen Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und die der fraglichen Arbeitsverhältnisse betreffen, ist die Klägerin zu 1. als Arbeitnehmerin anzusehen.
15 Die Klägerin zu 1. übt seit Juli 2016 eine unbefristete, geringfügige Beschäftigung als Aushilfskraft in einem Café in A-Stadt aus. Sie hat zunächst Arbeitsleistungen in einem Umfang von 4,5 Wochenstunden erbracht. Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind. Dieser Anhalt greift im vorliegenden Fall aber nicht durch. Denn er berücksichtigt nicht die besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls (vgl. hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 22.9.2016 - 13 PA 172/16 -, Umdruck S. 3): Es handelte sich um die erste Arbeitsstelle der Klägerin zu 1. Sie hatte den Einstieg in den Berufsalltag und die Berufstätigkeit mit der Versorgung ihrer minderjährigen Kinder, für die eine familiäre Betreuung durch Dritte nicht gewährleistet war, und dem täglichen Besuch des Sprachkurses in Einklang zu bringen. Nach diesen anfänglichen Schwierigkeiten hat die Klägerin zu 1. zudem seit März 2017 den Umfang ihrer Arbeitsleistungen auf zehn Wochenstunden erhöht. Daneben ist sie Ende Februar 2017 ein weiteres Arbeitsverhältnis eingegangen, in dem sie monatlich weitere 26 Stunden als Aushilfe in einem Supermarkt arbeitet. Angesichts dieser Umstände des konkreten Einzelfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 1. nur völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten erbringt.
16 Dass die Klägerin zu 1. derzeit nicht in der Lage ist, mit dem erzielten Erwerbseinkommen den Lebensunterhalt ihrer Familie vollständig oder auch nur weit überwiegend zu sichern, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 14. Dezember 1995 (- C-444/93 -, Megner und Scheffel, Rn. 17 f. und 21 ff.) die Auffassung der Bundesregierung, geringfügig Beschäftigte gehörten nicht zur Erwerbsbevölkerung, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mit den geringfügigen Einnahmen aus einer solchen Tätigkeit bestreiten könnten, zurückgewiesen. Der Europäische Gerichtshof hat klar herausgestellt, dass die Tatsache, dass das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, ihm nicht die Eigenschaft eines Erwerbstätigen nimmt und dass der Umstand, dass die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt oder die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen steht. An dieser Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof in der Folge festgehalten (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010, a.a.O., Rn. 20 und 23 ff.; Urt. v. 18.7.2007 - C-213/05 -, Geven, Rn. 27). Die widerstreitende, nicht näher begründete Auffassung des Verwaltungsgerichts in der angefochtenen Entscheidung, Freizügigkeit könne durch prekäre Beschäftigung nicht erlangt werden, geht daher ersichtlich fehl (vgl. in diesem Sinne auch: Sächsisches OVG, Beschl. v. 2.2.2016 - 3 B 267/15 -, juris Rn. 5; Hessischer VGH, Beschl. v. 26.6.2014 - 9 B 37/14 -, juris Rn. 10 ff.). [...]