VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2017 - 11 S 341/17 - asyl.net: M25488
https://www.asyl.net/rsdb/M25488
Leitsatz:

1. Zur Herstellung der Entscheidungsreife, nach deren Eintritt die Entscheidungsfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 LVwVfG (juris: VwVfG BW 2005) erst zu laufen beginnt, gehört in Verwaltungsverfahren, die auf die Rücknahme von Aufenthaltstiteln gerichtet sind, der Abschluss des Anhörungsverfahrens, und zwar unabhängig von dessen Ergebnis (Rn. 57).

2. Ein türkischer Staatsangehöriger kann sich auch dann nicht auf ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 6 ARB 1/80 (juris: EWGAssRBes 1/80) berufen, wenn er den Aufenthalt durch Täuschung erlangt hat, er aber wegen der Täuschung der Ausländerbehörde nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden ist (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 14.05.2013 - 1 C 16.12 -, BVerwGE 146, 271 Rn. 18 ff.) (Rn. 77).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Assoziationsberechtigte, Assoziationsrecht, Täuschung, Rücknahme, Verwaltungsakt, Frist, Anhörung, Verwaltungsverfahren, Straftat,
Normen: VwVfG § 48 Abs. 4
Auszüge:

[...]

56 aa) Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG ist die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes dann, wenn die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhält, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen, nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig.

57 Die Kenntnis davon, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, setzt für sich allein die Rücknahmefrist nicht in Lauf. § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG verlangt vielmehr, dass der Behörde sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Schon der Wortlaut fordert die Kenntnis von Tatsachen, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts "rechtfertigen", und stellt damit klar, dass die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit für sich allein den Fristenlauf nicht auszulösen vermag, sondern hierzu die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalts nötig ist. Hierzu gehören auch alle Tatsachen, die im Falle des § 48 Abs. 2 LVwVfG ein Vertrauen des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts entweder nicht rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände. Die Frist beginnt demgemäß zu laufen, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden. Das entspricht dem Zweck der Jahresfrist als einer Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlaufen kann, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung bedeutsamen Tatsachen bekannt sind (BVerwG, Beschluss vom 19.12.1984 - GrSen 1.84 und 2.84 -, BVerwGE 70, 356 < 362 ff.>). Zur Herstellung der Entscheidungsreife, nach deren Eintritt die Entscheidungsfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG erst zu laufen beginnt, gehört regelmäßig der Abschluss des Anhörungsverfahrens, und zwar unabhängig von dessen Ergebnis, denn die Einwände des Beteiligten können nur dann ernstlich zu Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Behörde ihre Entscheidung bis zum Abschluss des Anhörungsverfahrens offen hält (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22.05.2014 - 10 S 1719/13 -, VBlBW 2015, 69). Dies gilt uneingeschränkt für Verwaltungsverfahren betreffend die Rücknahme von Aufenthaltstiteln (vgl. VGH Bad.-Württ, Urteil vom 11.01.2006 - 13 S 2345/05 -, VBlBW 2006, 354). Denn sowohl die abschließende Bewertung des Sachverhalts, der möglicherweise auf die Rechtswidrigkeit der Aufenthaltserlaubnis führt als - und damit die Tatbestandsseite - als auch die Einstellungen der Interesse am Fortbestand des Aufenthaltstitels trotz dessen Rechtswidrigkeit - und damit die Ausübung des als Rechtsfolge angeordneten Ermessens - ist ohne die Stellungnahme des Beteiligten zum Sachverhalt schwerlich abschließend möglich, wobei in den Fällen, in denen die Stellungnahme trotz Anhörung unterbleibt, § 82 Abs. 1 AufenthG zur Anwendung gelangt. Sind noch weitere Ermittlungen anzustellen oder abzuwarten, so können auch diese - gegebenenfalls nach einer erneuten Anhörung des Betroffenen - die Jahresfrist (erneut) auslösen. [...]