SG Speyer

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SG Speyer, Beschluss vom 17.08.2017 - S 16 AS 908/17 ER - asyl.net: M25519
https://www.asyl.net/rsdb/M25519
Leitsatz:

Die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1GG (Anschluss an SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 - S 3 AS 149/16 -).

Der von den Ausschlusstatbeständen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII.

Die eingefügten Sonder- und Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3SGB XII und § 23 Abs. 3a SGB XII in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung können den Verfassungsverstoß nicht kompensieren, da sie dem verfassungsrechtlichen Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen hinreichend bestimmt selbst zu treffen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 -, Rn.252 ff.) nicht genügen.

An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs.1 GG einholen müssten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.1992 - 1 BvR 1028/91 -, Rn. 29).

Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II sind erfüllt,wenn die für die Leistungsbewilligung entscheidungserhebliche Vorschrift insofern einen Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG bildet, dass sie im Falle der Nichtigkeitserklärung der im engeren Sinne verfahrensgegenständlichen Vorschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit nach § 78 Satz 2 BVerfGG gleichfalls für nichtig erklärt wird. 

Der unter dem Aktenzeichen 1 BvL 4/16 anhängige Vorlagebeschlusses des SG Mainzvom 18.04.2016 (S 3 AS 149/16) ermöglicht die vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGBII deshalb auch in Fällen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung.

Das dem Leistungsträger grundsätzlich eingeräumte Ermessen, ob nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II vorläufig Leistungen zu erbringen sind, ist im Fall einer drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Ausschluss von unterhaltssichernden Leistungen auf Null reduziert (entgegen LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.05.2017 - L 11 AS247/17 B ER -, Rn. 24).

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24Abs. 2 RL 2004/38/EG) (Anschluss an SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 - S 12 AS 946/15 ER -, Rn. 41ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 - S 3 AS 149/16 -, Rn. 381 ff.; entgegen EuGH, Urteil vom15.09.2015 - C-67/14 - Rn. 63).

Die Ausschlussregelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) und b) SGB II sind nicht bereits deshalb als mit Art. 4VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14)ausgesprochen hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, Leistungsausschluss, SGB II, SGB XII, Arbeitnehmereigenschaft, Verfassungsmäßigkeit, Vorlagebeschluss, einstweilige Anordnung, Existenzminimum, existenzsichernde Leistungen, Gleichbehandlungsgebot, Diskriminierungsverbot, Gleichheitsgrundsatz, Sozialhilfe, Sozialrecht,
Normen: SGB II § 7, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 5, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art 20 Abs. 1, VO (EG) 883/2004 Art. 4, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Bst. a, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Bst. b, VO 883/2004 Art. 4, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 3, SGB II § 41a Abs. 7 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

51 2.5.1 Auch für den Fall, dass der Antragsteller nur über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU (Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche) oder über kein Aufenthaltsrecht verfügen sollte, bestünde ein Anordnungsanspruch. Die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) und b) SGB II sind bei Unionsbürgern nicht anzuwenden, da sie gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) verstoßen. Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG)) gerechtfertigt werden (so bereits SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER –, Rn. 41 ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 381 ff.; a.A. EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63). [...]

70 g) Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht bereits deshalb als mit Art. 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) ausgesprochen hat.

71 Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV entfalten Bindungswirkung nur gegenüber den Gerichten im jeweiligen der Entscheidung des EuGH zu Grunde liegenden Ausgangsverfahren (EuGH, Urteil vom 24.06.1969 – 29/68; BVerfG, Beschluss vom 08.06.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75 – Rn. 54; BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 – 2 BvL 6/77 – Rn. 37 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 78; BVerfG, Beschluss vom 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Rn. 58 f. jeweils zum in dieser Hinsicht wortgleichen Art. 177 EWGV; unzutreffend deshalb SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 71 und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4). Präjudizien des EuGH fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen, sondern sind lediglich Argumente, sofern sie methodisch haltbar sind (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 319 ff.). Wenn ein Gericht Unionsrecht anders auslegen will als der EuGH, folgt – wie sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergibt – hieraus auch keine Vorlagepflicht, solange innerstaatliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung bestehen. Es steht vielmehr im Ermessen des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorzulegen, um gegebenenfalls eine Korrektur der Rechtsprechung zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 27.03.1963 – C-28/62; vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar, AEUV, Art. 267, Rn. 22, 16. Auflage 2016).

72 Daher gibt es für mitgliedstaatliche Fachgerichte weder einen rechtswissenschaftlichen noch einen rechtlichen Grund, nach dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) ohne eigene Auseinandersetzung und ohne rechtswissenschaftliche Begründung von der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auszugehen (so aber nahezu die gesamte sozialgerichtliche Praxis, z. B.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.09.2015 – L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 8; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.10.2015 – L 29 AS 2344/15 B ER – Rn. 81; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 32; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.02.2017 – L 23 SO 30/17 B ER –, Rn. 39; Hessisches LSG, Beschluss vom 20.06.2017 – L 4 SO 70/17 B ER –, Rn. 12; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 08.08.2017 – L 6 AS 212/17 B ER – nicht veröffentlicht). [...]

74 2.5.2 Auch unabhängig von der Frage der Europarechtswidrigkeit der Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre eine Verurteilung des Antragsgegners zur Gewährung von Arbeitslosengeld II in der Hauptsache wahrscheinlich, ein Anordnungsanspruch daher gegeben. Denn die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstoßen nach der Rechtsauffassung der erkennenden Kammer auch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, wie es vom BVerfG in den Urteilen vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) konstituiert worden ist (so zur bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04. 2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 245 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – zur Veröffentlichung vorgesehen, und SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 7 ff.; vgl. auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285 f. und Pattar, SGb 2016, S. 665 ff.).

75 a) An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müssten. Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der von ihm angenommenen Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (BVerfG, Beschluss vom 24.06.1992 – 1 BvR 1028/91 –, Rn. 29). Prozessrechtlich ergibt sich die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsvorschrift bei der Prüfung des Erlasses einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG aus dem Umstand, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu bewerten sind. Dies schließt die Möglichkeit der Durchführung eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG im Hauptsacheverfahren und dessen Erfolgsaussichten mit ein.

76 Hierbei geht es nicht um die Ableitung konkreter Leistungsansprüche unmittelbar aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (dies ablehnend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2017 – L 19 AS 190/17 B ER – Rn. 47), sondern um die Verpflichtung zur vorläufigen Erfüllung einfachgesetzlich geregelter Leistungsansprüche unter einstweiliger Nichtanwendung verfassungswidriger Ausschlusstatbestände in der begründeten Erwartung, dass diese durch das BVerfG für nichtig erklärt werden.

77 Mithin besteht ein Anordnungsanspruch auch für den Fall, dass ein Verstoß des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004 entgegen der hier vertretenen Auffassung nicht angenommen werden kann oder der EuGH dies im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für den zu entscheidenden Einzelfall verbindlich feststellen sollte. [...]

87 bb) Für den vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wird der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die inzwischen in § 7 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II vorgesehen Ausnahmen betreffen nur einen kleinen Teil der von den Ausschlusstatbeständen erfassten Personen.

88 Der betroffene Personenkreis hat auch keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 416 ff.). Allerdings greifen im SGB XII gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII grundsätzlich dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entsprechende Ausschlusstatbestände. Die Möglichkeit, im Ermessenswege dennoch Leistungen zur Sicherung nach dem Lebensunterhalt zu erbringen (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18. April 2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 447 ff.) wurde durch Gesetz vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3155) mit Wirkung zum 29.12.2016 jedoch abgeschafft. Durch die seinerzeit eröffnete Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII und weiterer Leistungsarten der Sozialhilfe für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis konnte ein verfassungsgemäßes Ergebnis jedoch ohnehin nicht erreicht werden (vgl. ausführlich SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 458 ff.).

89 cc) Die stattdessen eingefügten Sonder- und Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 SGB XII und § 23 Abs. 3a SGB XII in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung können den Verfassungsverstoß gleichfalls nicht kompensieren. [...]

96 Die Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII sind für sich schon auf Grund ihrer engen zeitlichen Begrenzung – unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung des nur unbestimmt geregelten Umfangs (§ 23 Abs. 3 Satz 4 SGB XII) – nicht dazu geeignet die Gewährleistung des Existenzminimums jederzeit sicherzustellen. Ein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen muss während der gesamten tatsächlichen Dauer des Aufenthalts im Inland bestehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 – Rn. 94; vgl. auch Kirchhof, NZS 2015, S. 4). Unzutreffend ist daher auch die Auffassung, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließe, Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne und der Staat hierbei allenfalls gehalten sei, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 516). Deshalb vermag auch der neue § 23 Abs. 3a SGB XII nichts an der Verfassungswidrigkeit der Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zu ändern.

97 Die Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 Halbsatz 2 SGB XII genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ebenfalls nicht. Diese Vorschrift wurde zwar nicht als Ermessensvorschrift ausgestaltet, so dass die wesentlichen Einwände gegen die Verwendung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. durch das BSG als Auffangnorm für eine "verfassungskonforme Auslegung" hierauf nicht zutreffen (vgl. hierzu ausführlich SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 458 ff.; Pattar, SGb 2016, S. 671). [...]

113 a) Derzeit ist auf Grund des Vorlagebeschlusses des SG Mainz vom 18.04.2016 (S 3 AS 149/16) beim BVerfG unter dem Aktenzeichen 1 BvL 4/16 ein konkretes Normenkontrollverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG mit dem Gegenstand der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II anhängig. Dieser Vorlagebeschluss behandelt zwar nur die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung. Der Terminus der entscheidungsrelevanten Vorschrift im Sinne des § 47a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II verlangt aber keine strenge Beschränkung auf die jeweils geltende Fassung. Es genügt vielmehr, dass die für die Leistungsbewilligung entscheidungserhebliche Vorschrift insofern einen Gegenstand des Verfahrens vor dem BVerfG bildet, dass sie im Falle der Nichtigkeitserklärung der im engeren Sinne verfahrensgegenständlichen Vorschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit nach § 78 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) gleichfalls für nichtig erklärt wird. Diese Auslegung lässt sich mit dem Wortlaut des § 47a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II vereinbaren. Sie ist deshalb gerechtfertigt, weil die verfassungsprozessrechtliche Möglichkeit des § 78 Satz 2 SGG, die vor allem der Effektivität des Rechtsschutzes und der Verhinderung von gleichartigen Folgeverfahren dient, auf diese Weise in das einfache Recht übertragen wird. Die Wirksamkeit der Regelung des § 47a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II würde erheblich beeinträchtigt, wenn bei jeder geringfügigen Gesetzesänderung die Möglichkeit einer vorläufigen Leistungserbringung entfiele, obwohl das BVerfG auch die geänderte Vorschrift im noch anhängigen Verfahren für nichtig erklären könnte. Eine analogen Anwendung des § 47a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II bedarf es hierfür nicht (offen gelassen: SG Hannover, Beschluss vom 14.07.2017 – S 48 AS 1951/17 ER –, Rn. 27 ff.). [...]

115 c) Das dem Leistungsträger grundsätzlich eingeräumte Ermessen, ob nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II vorläufig Leistungen zu erbringen sind, ist im Fall einer drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Ausschluss von unterhaltssichernden Leistungen auf Null reduziert (a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19. Mai 2017 – L 11 AS 247/17 B ER –, Rn. 24). Es ist vor dem Hintergrund der Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG schlicht nicht erkennbar, mit welcher Ermessenserwägung ein Leistungsträger es rechtmäßig verweigern dürfte, einer existenziell hilfebedürftigen Person Leistungen zu gewähren, wenn eine gesetzliche Grundlage hierfür besteht und die Tatbestandsvoraussetzungen hierfür erfüllt sind.

116 Der Einwand, der Gesetzgeber § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um das Existenzminimum sichernde Leistungen handelt, als Ermessensvorschrift ausgestaltet, weshalb weitere Punkte neben dem Umstand der Existenzsicherung hinzutreten müssten, um eine Ermessensreduzierung auf Null zu begründen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.05.2017 – L 11 AS 247/17 B ER –, Rn. 24; ähnlich LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. März 2017 – L 5 AS 449/17 B ER –, Rn. 18) verfängt nicht. Hierbei wird übersehen, dass die Voraussetzungen des § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II auch gegeben sein können, ohne dass im konkreten Einzelfall eine existenzielle Notlage besteht, beispielsweise wenn die betroffene Person noch über tatsächlich verwertbareres Schonvermögen verfügt oder darlehensweise Hilfen erlangen kann. Die Annahme einer Ermessensreduktion auf Null in Fällen einer drohenden Grundrechtsverletzung führt somit nicht dazu, dass der Charakter des § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II als Ermessensvorschrift vollständig konterkariert wird. [...]