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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 01.09.2017 - 28 K 166.17 A - asyl.net: M25558
https://www.asyl.net/rsdb/M25558
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für eritreische Deserteure und ihre Familienangehörige:

1. Der Staat Eritrea schreibt nicht allen illegal ausgereisten Desertierten und Dienstverweigernden sowie deren Familienangehörigen ohne weitere Anhaltspunkte eine gegnerische politische Überzeugung zu. Da die Flucht in Eritrea zu einem Massenphänomen geworden ist, erfolgen Verfolgungshandlungen vielmehr zur Durchsetzung des Nationaldienstes.

2. Die für Desertion verhängten Haftstrafen bleiben hinter den gesetzlichen Höchststrafen zurück und die Haftbedingungen sind nicht härter als die für andere Strafgefangene. Auch die Möglichkeit, sich durch die Zahlung einer "Diaspora-Steuer" vor Bestrafung zu schützen, zeigt, dass der eritreische Staat aus ökonomischen Interessen auf seinen Strafanspruch verzichtet und einer möglicherweise hinter der Desertion stehenden politischen Überzeugung keine entscheidende Bedeutung beimisst.

(Leitsätze der Redaktion; die Sprungrevision wurde zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, ob bei Prüfung einer zugeschriebenen politischen Überzeugung berücksichtigt werden darf, dass die Rückkehr in das Herkunftsland bei Zahlung einer Steuer und der ein Strafanerkenntnis beinhaltende Unterzeichnung einer Reueerklärung tatsächlich möglich ist, selbst wenn dies den Betroffenen unzumutbar ist; hierzu BVerwG, Urteil vom 19.04.2018 - 1 C 29.17 - Asylmagazin 7-8/2018, S. 257 ff. - asyl.net: M26300

 Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, national service, Militärdienst, Asylrelevanz, Upgrade-Klage, Politmalus, Nationaler Dienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, illegale Ausreise, unterstellte oppositionelle Haltung, politische Überzeugung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 4 S. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

33 bb. Jedoch knüpft die der Klägerin hiernach im Zeitpunkt der Ausreise bevorstehende Inhaftierung nicht an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund – insbesondere nicht an ihre politische Überzeugung – an.

34 Nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt. Dabei ist es gem. § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob der Asylsuchende tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

35 Der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend setzt eine flüchtlingsschutzrelevante politische Verfolgung voraus, dass die Maßnahme den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsschutzrelevante Merkmale treffen soll. [...]

36 Gemessen hieran lässt sich nach der Überzeugung der Kammer anhand der Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht feststellen, dass der Klägerin vor ihrer Ausreise eine Inhaftierung wegen einer ihr von den eritreischen Behörden zugeschriebenen politischen Gegnerschaft oder einem anderen flüchtlingsschutzrelevanten Merkmal drohte. Die Kammer konnte aufgrund der derzeitigen Erkenntnisse (dazu i.) und der persönlichen Anhörung der Klägerin (dazu ii) nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit die Überzeugung gewinnen, dass der Staat Eritrea allen Deserteuren und Dienstverweigerern sowie deren Familienangehörigen – auch wenn er ihnen im Einzelfall eine Beteiligung an der Desertion oder Dienstverweigerung unterstellt – ohne weitere Anhaltspunkte eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt und sie gerade im Hinblick darauf zu bestrafen sucht (vgl. VG München, Urteil vom 10. Januar 2017 – M 12 K 16.33229 –, juris, Rn. 26; VG Düsseldorf, Urteil vom 16. März 2017 – 6 K 12164/16.A –, juris, Rn. 38 f.; VG Berlin, Urteil vom 29. Mai 2017 – VG 33 K 204.17 A –, Entscheidungsabdruck S. 10 f. zur Veröffentlichung in juris vorgesehen; jeweils m.w.N.; dagegen VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 –, juris, Rn. 35 f.; VG Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2016 – 7 K 2273/16.A –, juris, Rn. 46 f.; VG Schwerin, Urteil vom 20. Januar 2017 – 15 A 3003/16 As SN –, juris, Rn. 70 ff.; jeweils m.w.N.; vgl. auch UK Upper Tribunal, MST and Others [national service – risk categories] Eritrea CG [2016] UKUT 00443 [IAC], 7. Oktober 2016, S. 4 und S. 155, Rn. 430).

37 i. Unter Gesamtbetrachtung und Würdigung der eingeführten Erkenntnisse verkennt die Kammer nicht, dass es zwar verschiedene Umstände gibt, die für die Zuschreibung einer politischen Überzeugung im Falle einer Desertion bzw. Verweigerung des Nationaldienstes und einer damit begründeten Flucht aus Eritrea sowie der Beteiligung an einer solchen Tat und für eine hieran anknüpfende Bestrafung sprechen. Diese für die Zuschreibung einer gegnerischen politischen Überzeugung sprechenden Umstände besitzen jedoch kein größeres Gewicht und überwiegen nicht die dagegen sprechenden.

38 So lässt die Strafpraxis nicht erkennen, dass der Staat Eritrea Deserteuren, Dienstverweigerern oder deren Familienangehörigen – auch wenn er ihnen im Einzelfall eine Beteiligung an der Desertion oder Dienstverweigerung unterstellt –, eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt und sie gerade im Hinblick darauf "als Verräter" besonders bestraft. [...]

40 [...] Nach alledem kann den Berichten eine an eine vermeintliche politische Gegnerschaft anknüpfende härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern nicht entnommen werden, was nach der Überzeugung der Kammer ein starkes Indiz dafür ist, dass auch deren Familienangehörige, selbst wenn ihnen im Einzelfall eine Beteiligung an der Desertion oder Dienstverweigerung unterstellt wird, eine solche nicht zu erwarten haben. [...]

41 [...] Vor diesem Hintergrund stellt sich die Praxis der Grenztruppen zwar als drakonische Maßnahme des eritreischen Staates zur Verhinderung der Flucht und der Aufrechterhaltung der Herrschaftsstruktur dar. Gleichwohl bestehen nach Auffassung der Kammer Zweifel darüber, ob der Schießbefehl Ausdruck einer zugeschriebenen politischen Überzeugung der Fliehenden oder lediglich Mittel zum Zweck ist, die Flucht aus Eritrea zu verhindern. [...]

42 [...] Nach der Überzeugung der Kammer überwiegen dennoch die Umstände, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat allein aufgrund der Entziehung vom Nationaldienst oder der Beteiligung hieran eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt und gerade diese zu bestrafen sucht.

43 Der Nationaldienst ist für den Staat Eritrea nicht nur von besonderer politischer sondern auch zunehmend von wirtschaftlicher Bedeutung. [...]

44 Gerade die dem letztgenannten Fall zugrundeliegende Möglichkeit der Erlangung des sog. "Diaspora-Status" zeigt nach der Auffassung der Kammer aber, dass der totalitäre Staat Eritrea von der Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern zugunsten ökonomischer Interessen absieht und einer möglicherweise dahinterstehenden politischen Überzeugung derzeit keine entscheidende Bedeutung beimisst. [...]

45 Das Verhalten des eritreischen Staates gegenüber Familienangehörigen von Deserteuren und Dienstverweigerern bestätigt dieses Ergebnis. So kommt es auch heute noch, wenngleich nicht mehr systematisch, zu Festnahmen von Familienangehörigen und Dienstverweigerern (EASO, a.a.O., S. 43 m.w.N.). Allerdings berichtet AI, dass diese Festnahmen dazu dienen, die geflohenen Deserteure oder Dienstverweigerer zur Rückkehr zu bewegen (vgl. AI, a.a.O., S. 42; UN-Kommission, Report 2015, S. 203 f. Abs. 748). Berichtet wird außerdem, dass die inhaftierten Familienangehörigen – auch wenn die geflohene Person nicht zurückkehrt – zumindest in der Regel gegen die Zahlung von rund 50.000,00 Nafka freigelassen werden (UN-Kommission, Report 2015, S. 204 Abs. 749 ff.; vgl. aber auch UN-Kommission, Report 2016, S. 28 Abs. 109).

46 Die Kammer verkennt dabei nicht, dass die Zahlung der "Diasporasteuer" und das Anerkenntnis der Strafe gegen den Willen der Klägerin nicht verlangt werden kann, dass der "Diaspora-Status" auch keine hinreichende Sicherheit vor einer möglichen Bestrafung der Klägerin bietet und ihr dies deshalb nicht zumutbar ist. Gleichwohl kommt es für die Zurechnung einer politischen Überzeugung allein darauf an, dass der eritreische Staat diese Möglichkeit eröffnet und damit zum Ausdruck bringt, welche Bedeutung er der Desertion und der Verweigerung des Nationaldienstes sowie einer Beteiligung hieran beimisst. Daher genügt nach Auffassung der Kammer die Flucht vom Nationaldienst ohne Hinzutreten besonderer Umstände des Einzelfalls noch nicht für die Annahme eines politischen Verfolgungsgrundes. [...]

48 cc. Soweit die Klägerin eine Genitalverstümmelung erlitten hat, vermag diese keine Vermutung für eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung begründen. Zwar erfolgt eine Genitalverstümmelung wegen der Zugehörigkeit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mädchens zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4, 4. Halbsatz AsylG, wonach eine Gruppe insbesondere auch als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gilt, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtlichen Identität anknüpft (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. März 2017 – 6 K 12164/16.A –, juris Rn. 129). Aber schon der Umstand, dass sie die Genitalverstümmelung bereits erlitten hat, spricht dagegen, dass ihr dieses Schicksal nach ihrer Rückkehr erneut droht. [...]

56 Vor allem die Praxis, dass offenbar auch Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge den "Diaspora-Status" erhalten und so ohne Bestrafung nach Eritrea ein- und wieder ausreisen können, spricht dafür, dass allein die illegale Ausreise und die Asylantragstellung nicht die Zuschreibung einer gegnerischen politischen Gesinnung durch den eritreischen Staat nach sich zieht (vgl. AA, a.a.O., S. 17; SEM, a.a.O., S. 41 f. m.w.N.).

57 Aus denselben Erwägungen liegt auch der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht vor. Die Dienstverweigerung bzw. Desertion in Kombination mit der anschließenden illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland bildet bereits keinen unveränderbaren Hintergrund von ausreichendem Gewicht. Überdies sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die eritreische Gesellschaft Personen mit einem solchen Hintergrund als andersartig betrachten würde.

58 Anhaltspunkte dafür, dass im Falle der Klägerin eine abweichende Betrachtung angezeigt wäre, liegen nicht vor. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass ihr der Staat Eritrea aufgrund ihrer Weigerung, die "Diasporasteuer" zu zahlen und das Reueformular zu unterschreiben, eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt. [...]

65 III. Auf den Antrag der Kläger war gegen das Urteil die Sprungrevision nach § 134 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VwGO i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Diese Norm findet Anwendung, da § 78 Abs. 6 AsylG in der hier anzuwenden Fassung vom 20. Juli 2017 diese (nur noch) dann ausschließt, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts nach § 78 Abs. 1 AsylG unanfechtbar ist, was hier nicht der Fall ist. Die Rechtssache hat ferner grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die in einem zukünftigen Revisionsverfahren klärungsfähig und klärungsbedürftig ist und ihre Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (Pietzner/Buchheister in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 32. EL Oktober 2016, § 132 Rn. 33).

66 In der Revision kann die grundsätzliche Rechtsfrage geklärt werden, ob im Rahmen der Frage nach einer Verfolgung aufgrund einer zugeschriebenen politischen Überzeugung nach §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 3, 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit aufgrund einer qualifizierenden Betrachtungsweise aller festgestellten Umstände die tatsächliche Möglichkeit berücksichtigt werden darf, durch die Zahlung einer Steuer und die Unterzeichnung einer Reueerklärung, die ein Strafanerkenntnis beinhaltet, in das Herkunftsland zurückzukehren, auch wenn die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit dem Betroffenen nicht zumutbar ist. [...]