VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 19.09.2017 - A 2 K 2897/17 - asyl.net: M25603
https://www.asyl.net/rsdb/M25603
Leitsatz:

Bei einer Abschiebung nach Somalia droht Rückkehrern, unabhängig davon, aus welchem Landesteil sie stammen, wegen der Lebensmittelknappheit konkrete Gefahr für Leib und Leben.

Schlagwörter: Somalia, Existenzgrundlage, extreme Gefahrenlage, Existenzminimum, Lebensmittelknappheit, Dürre,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

2. Die Annahme der Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG scheidet schon deswegen aus, weil auf Grund unklarer Identität und Herkunft des Klägers nicht bestimmt werden kann, welche Region Somalias für die Beurteilung dieser Gefahr in den Blick genommen werden soll. Nach der Rechtsprechung ist nämlich primär auf die Herkunftsregion abzustellen und die Sicherheitslage stellt sich etwa in Somaliland wesentlich anders dar.

III. Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Kammer ist der Überzeugung, dass Rückkehrern nach Somalia, unabhängig davon, aus welchem Landesteil sie stammen, einer konkreten Gefahr für Leib und Leben wegen der dortigen Lebensmittelknappheit ausgesetzt sind, da Abschiebungen nur nach Mogadischu stattfinden können (dazu 1.). Das führt zwar nicht zu einem Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG, aber zu jenen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung (dazu 2.).

1. Im Human Development Index wird Somalia schon nicht mehr aufgeführt (vgl. dazu wikipedia, Index der menschlichen Entwicklung, Rangliste, nicht berücksichtigte Länder). Der langjährige Bürgerkrieg sowie häufige Dürre- und Flutkatastrophen führen dazu, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter chronischem Mangel an ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinischer Versorgung leidet. Die Grundversorgung kann als schlecht bis kaum vorhanden bezeichnet werden. Diese ohnehin schon bestehende Situation hat sich 2017 weiter verschärft. Denn die diesjährige Dürre betrifft nicht nur den Süden Somalias - wie 2011, als rund 260.000 Menschen an Hunger starben -, sondern auch den Norden mit Somaliland und Puntland (Tagesspiegel, 15.04.2017; Österreichisches Bundesasylamt, Kurzinformation der Staatendokumentation, Somalia - Dürre hält weiterhin an, 19.01.2017; Kurzinformation v. 27.06.2017 - UN Security Council, Report of the Secretary General on Somalia, 09.01.2017, S. 12). Rund drei Millionen Menschen hungern in Somalia bei rund 11 Millionen Einwohnern (VG Magdeburg, Urt. v. 06.04.2017 - 8 A 153/16 - juris m.w.N.). Mag es auch sein, dass sich die Lebensmittelversorgung in Mogadischu derzeit noch etwas besser darstellt (so Bay. VGH, Urt. v. 23.03.2017 - 20 B 15.30110 – juris Rn. 38), besteht die konkrete Gefahr, dass der Lebensmittelengpass in nächster Zeit, wenn eine Abschiebung des Klägers stattfinden würde, auch die Hauptstadt, die selbst über wenig Anbauflächen verfügt, erreicht.

2. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich das aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt. Dies ist nach Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Zielstaat der Abschiebung droht (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12). Art. 3 EMRK knüpft zwar an die Verantwortung des Konventionsstaats, der die Abschiebung beabsichtigt (hier also die Bundesrepublik) an, setzt aber keine unmenschliche Behandlung durch den Zielstaat voraus; dort genügen auch andere Gefahren wie eine unmenschliche Behandlung durch Private oder die Lebensumstände (BVerwG, Urt. v. 31.01.2013, a.a.O.).

Art. 3 EMRK ist allerdings nur ein Abwehrrecht und gewährt nur Schutz vor Abschiebung, nicht Anspruch auf Erteilung eins Aufenthaltstitels. Sind die zur Unmenschlichkeit führenden Lebensumstände solche, die die ganze Bevölkerung oder einen Großteil davon betreffen, dürften § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG eine die Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG sperrende Spezialvorschrift bilden. Solchen Allgemeingefahren - wie hier durch Lebensmittelknappheit - wäre regelmäßig durch eine ministerielle Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu begegnen (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG), die in Baden-Württemberg derzeit jedoch fehlt. In diesem Fall ist durch verfassungskonforme Auslegung des 60 Abs. 7 Satz 1 u. 5 AufenthG dennoch individueller Schutz zu gewähren, wenn eine "Extremgefahr" besteht, bei der der Betroffene "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde (BVerwG; Urt. v. 08.09.2011 - BVerwG 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319), was nach Überzeugung der Kammer auf Grund der Lebensmittelknappheit derzeit der Fall wäre. [...]