VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 04.12.2017 - 28 L 209.17 A - asyl.net: M25735
https://www.asyl.net/rsdb/M25735
Leitsatz:

Die offene europarechtliche Frage, ob zur Begründung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates nach Art. 8 Abs. 4 der EUV 604/2013 (Dublin-III VO), ein Antragsteller in dem Zeitpunkt Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchstabe i) Dublin-III VO sein muss, in dem er seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, oder ob dieser Zeitpunkt jedenfalls dann, wenn der Antragsteller als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne des Art. 2 Buchstabe j) Dublin-III VO in den Mitgliedsstaat eingereist ist, nach den nationalen Bestimmungen des Mitgliedsstaates als Minderjähriger nicht selbst einen wirksamen Antrag auf internationalen Schutz stellen konn­te und die nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaates zur unverzüglichen Stellung eines solchen Antrags für den Antragsteller verpflichtete Stelle dies vor Eintritt seiner Volljährigkeit unterlässt, auf den Zeitpunkt vorverlegt werden muss, in dem die zuständige Stelle des Mitgliedstaates den Antrag auf internationalen Schutz hätte stellen müssen, bedarf im Hauptverfahren voraussichtlich einer Vorlage an den EuGH.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Asylantrag, Versteinerungsklausel, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 2 Bst. i, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

12 1. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG gestützten Ablehnung des Asylantrags der Antragstellerin als unzulässig – und damit die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Abschiebung nach Italien gem. § 34a Abs. 1 AsylG – hängt maßgebend von der im Hauptsacheverfahren zu klärenden europarechtlichen Frage ab, ob zur Begründung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates nach Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III VO), ein Antragsteller in dem Zeitpunkt Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchstabe i) Dublin-III VO sein muss, in dem er seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, oder ob dieser Zeitpunkt jedenfalls dann, wenn der Antragsteller als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne des Art. 2 Buchstabe j) Dublin-III VO in den Mitgliedstaat eingereist ist, nach den nationalen Bestimmungen des Mitgliedstaates als Minderjähriger nicht selbst einen wirksamen Antrag auf internationalen Schutz stellen konnte und die nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaates zur unverzüglichen Stellung eines solchen Antrages für den Antragsteller verpflichtete Stelle dies vor Eintritt seiner Volljährigkeit unterlässt, auf den Zeitpunkt vorverlegt werden muss, in dem die zuständige Stelle des Mitgliedstaates den Antrag auf internationalen Schutz hätte stellen müssen.

13 Denn im letztgenannten Fall wäre nach Art. 8 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 und 2 Dublin-III VO und Art. 7 Abs. 1 Dublin-III VO die Antragsgegnerin der für die Prüfung des Asylantrages der Antragstellerin zuständige Mitgliedstaat. Nach dieser Norm ist für einen unbegleiteten Minderjährigen, also bei Abwesenheit eines Familienangehörigen, eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2, der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH so zu verstehen, dass derjenige Mitgliedstaat als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (EuGH, Urteil vom 06. Juni 2013 – C- 648/11 –, juris Rn. 66). Vorliegend war die Antragstellerin zwar im Zeitpunkt der Stellung ihres Asylantrages bereits volljährig, konnte aber nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland als unbegleitete Minderjährige nach § 12 AsylG im Mai 2016 weder selbst einen wirksamen Asylantrag stellen, noch hat die zuständige Senatsverwaltung für die Antragstellerin einen Asylantrag gestellt, obwohl sie nach § 42 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) zur unverzüglichen Stellung eines Asylantrages verpflichtet gewesen wäre.

14 Diese Rechtsfrage ist nach der Auffassung der Kammer offen. Für ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung sprechen vor allem systematische Erwägungen. So ist nach Art. 8 Abs. 4 Dublin-III VO derjenige Mitgliedstaats zuständig, in dem der (unbegleitete) Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Ferner stellt Art. 8 Dublin-III VO in den Abs. 1 und 2 jeweils darauf ab, dass der Antragsteller (unbegleiteter) Minderjähriger ist. Überdies lässt sich der Bestimmung in Art. 7 Abs. 2 Dublin-III VO – unabhängig von der umstrittenen Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit auf den hiesigen Fall – entnehmen, dass grundsätzlich die Situation im Zeitpunkt der Antragstellung für die Prüfung der Zuständigkeit nach der Dublin-III VO maßgebend ist.

15 Andererseits sprechen insbesondere teleologische Argumente für eine Rückbeziehung auf den Zeitpunkt, in dem für die Antragstellerin ein Asylantrag hätte gestellt werden müssen. Dem Zweck des Art. 8 Abs. 4 Dublin-III VO, unbegleiteten Minderjährigen als besonders gefährdeten Personen einen effektiven Zugang zur Beurteilung ihrer Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urteil vom 06. Juni 2013 – C-648/11 –, juris, Rn. 55 f.), könnte es nämlich zuwiderlaufen, wenn diese Norm nur deshalb nicht zur Anwendung gelangt, weil der unbegleitete Minderjährige nach nationalen Recht selbst keine Möglichkeit hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und die hierfür zuständige Stelle pflichtwidrig vor dem Eintritt der Volljährigkeit keinen Asylantrag stellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 6 Abs. 1 Dublin-III VO das Wohl des Kindes in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten ist und die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin-III VO dafür sorgen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen diesen Verfahren von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. In Art. 25 Abs. 1 Buchstabe a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrens-RL) – auf die Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 Bezug nimmt – heißt es ferner, bei allen Verfahren nach Maßgabe dieser Richtlinie und unbeschadet der Bestimmungen der Artikel 14 bis 17 ergreifen die Mitgliedstaaten so bald wie möglich Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass ein Vertreter den unbegleiteten Minderjährigen vertritt und unterstützt, damit dieser die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen kann. In Art. 7 Abs. 3 der Verfahrens-RL heißt es außerdem, die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Minderjähriger das Recht hat, entweder im eigenen Namen – wenn er nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats verfahrensfähig ist – oder über seine Eltern, über einen anderen volljährigen Familienangehörigen, über einen gesetzlich oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats für ihn verantwortlichen Erwachsenen oder über einen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

16 Würde man die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 4 Dublin-III VO im hiesigen Fall verneinen, würde sich die ebenfalls als offen zu bewertende europarechtliche Frage anschließen, ob aufgrund der vorstehenden Erwägungen die Verpflichtung der Antragsgegnerin bestünde, zu Gunsten der Antragstellerin ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III VO auszuüben, weil ihr Ermessen aufgrund der oben genannten europarechtlichen Vorgaben ggf. auf Null reduziert ist. In ihrem Schreiben vom 22. November 2017 hat die Antragsgegnerin ihren Ermessensspielraum offenbar nicht umfassend ausgeschöpft. [...]