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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 11.10.2017 - V ZB 41/17 - Asylmagazin 5/2018, S. 182 ff. - asyl.net: M25737
https://www.asyl.net/rsdb/M25737
Leitsatz:

Abgrenzung zwischen Zurückweisung und Zurückschiebung:

1. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG ist bei der Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 AufenthG nicht erforderlich. Dies ist anders als bei der Abschiebung und der Zurückschiebung, bei der das Einvernehmen erforderlich ist (hierzu siehe BGH, Beschluss vom 09.02.2017 - V ZB 129/16 - asyl.net: M25539). Die Regelung zum Einvernehmen ist nicht analog auf die Zurückweisung anzuwenden. (In Abgrenzung zu BVerfG, Beschluss vom 24.02.2011 - V ZB 202/10 - asyl.net: M18378.)

2. Während des laufenden Asylverfahrens ist Asylsuchenden der Aufenthalt nach § 55 AsylG gestattet. In solchen Fällen dürfen Betroffene nicht zurückgewiesen werden. Dies gilt, solange das Asylverfahren nicht durch Bescheid nach § 33 AsylG eingestellt wurde.

3. Wenn Asylsuchende einen Zweitantrag nach § 71a AsylG stellen, gilt ihr Aufenthalt zunächst nur als geduldet. Daher kann in einem solchen Fall eine Zurückweisung erfolgen. Erst wenn das BAMF die Wiederaufgreifensgründe nach § 51 VwVfG bejaht und ein weiteres Asylverfahren durchführt, ist der Aufenthalt der Betroffenen wieder nach § 55 AsylG gestattet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zurückschiebung, Staatsanwaltschaft, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Zurückweisung, Zurückschiebungshaft, Dublinverfahren, Dublin II-VO, Unzulässigkeit, Freiheitsentziehung, Zweitantrag, Haftanordnung, Einreiseverweigerung, Rücknahmefiktion, Duldung, Aufenthaltsgestattung, Abschiebungshaft,
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 15 Abs. 1, SGK Art. 14, AsylG § 71a, GG Art. 33 Abs. 1, GG Art. 33 Abs. 3, FamFG § 70 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, FamFG § 62, AufenthG § 15 Abs. 1, AufenthG § 15 Abs. 5, SGK Art. 28, SGK Art. 13 Abs. 4, RL 2013/33/EU Art. 8 Abs. 3 Bst. c, AufenthG § 15 Abs. 5 S. 2, AufenthG § 62 Abs. 4, AufenthG § 15 Abs. 5 S. 1, AufenthG § 15 Abs. 5, AufenthG § 15 Abs. 6, AsylG § 33 Abs. 3, AsylG § 33 Abs. 1, AsylG § 67 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 71a Abs. 3 S. 1, AsylG § 71a Abs. 1, AsylG § 55 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist eine Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 AufenthG und damit auch die Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 AufenthG zulässig, wenn an den Binnengrenzen des Schengenraums vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt werden. Die beteiligte Behörde war nicht gehalten, das Verfahren der Abschiebungshaft zu wählen. Nach Art. 28 i.V.m. Art. 13 Abs. 4 SGK sind die Mitgliedsstaaten nämlich dann, wenn eine Kontrolle der Binnengrenze stattfindet, verpflichtet, die unerlaubte Einreise durch Flüchtlinge zu verhindern. Die Haft zur Sicherung der Prüfung des Rechts auf Einreise bildet nach Art. 8 Abs. 3 Buchstabe c der Richtlinie 2013/33/EU (vom 26. Juni 2013, ABl. EU Nr. L 180 S. 96 - Aufnahmerichtlinie) einen eigenständigen Haftgrund (Senat, Beschluss vom 20. September 2017 - V ZB 118/17, zur Veröffentlichung bestimmt). Die Zurückweisung konnte an der Grenze nicht unmittelbar vollzogen werden, weil eine Wiederaufnahme durch Österreich, von dem aus der Betroffene nach Deutschland unerlaubt einreisen wollte, daran scheiterte, dass Österreich zu dessen Aufnahme nicht verpflichtet war.

2. Ohne Rechtsfehler geht das Beschwerdegericht davon aus, dass es bei einer - wie hier - Zurückweisung gemäß § 15 Abs. 1 AufenthG des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht bedarf (vgl. zur Bedeutung des Einvernehmens für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung Senat, Beschluss vom 9. Februar 2017 - V ZB 129116, juris Rn. 4 m.w.N.; Beschluss vom 27. September 2017 - V ZB 26/17, zur Veröffentlichung bestimmt).

a) Nach dem Wortlaut des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft "ausgewiesen und abgeschoben" werden. Der Fall, dass ein Ausländer zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG) oder ihm die Einreise verweigert werden soll (Art. 14 SGK), ist hingegen nicht aufgeführt.

b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kommt eine entsprechende Anwendung des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf den Fall der Zurückweisung nicht in Betracht (so im Ergebnis auch - ohne Differenzierung zwischen Zurückschiebung und Zurückweisung - GK-AufenthG/Gutmann, Stand April 2017, § 72 Rn. 34, aA HK-AuslR/Hofmann, AuslR, 2. Aufl., AufenthG § 72 Rn. 33, der das Einvernehmen gleichermaßen für die Zurückschiebung und die Zurückweisung für erforderlich hält). [...]

bb) Gegen eine entsprechende Anwendung des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf die Zurückweisung sprechen jedoch die Systematik des Aufenthaltsgesetzes und der europarechtliche Hintergrund der in § 15 AufenthG getroffenen Regelung.

(1) Die Voraussetzungen für die Durchsetzung einer Zurückweisung sind gegenüber der Durchsetzung einer Abschiebung oder einer Zurückschiebung deutlich abgemildert. Eines besonderen Haftgrundes bedarf es, wie die Verweisung in § 15 Abs. 5 Satz 2 AufenthG lediglich auf § 62 Abs. 4 AufenthG belegt, anders als in den Fällen der Abschiebungshaft und der Zurückschiebungshaft, nicht. Haft kann gemäß § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG - ungeachtet der stets zu prüfenden Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die persönliche Freiheit des Betroffenen - bereits dann angeordnet werden, wenn eine Zurückweisungsentscheidung ergangen ist und diese nicht unmittelbar vollzogen werden kann (Senat, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 127/16, juris Rn. 19). Mit § 15 Abs. 5 und 6 AufenthG, die durch Art. 1 Nr. 12 Buchstabe c des 1. Gesetzes zur Umsetzung von aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union vom 18. August 2007 (BGBl. I S. 1970) in das Aufenthaltsgesetz eingefügt worden sind, hat der Gesetzgeber eine eigenständige Regelung für die Freiheitsentziehungen und -beschränkungen als Folge einer Zurückweisung an der Grenze bzw. im Transitbereich eines Flughafens geschaffen (BT-Drucks. 1615065, S. 165). Die Vorschriften sind an die Stelle der vormaligen allgemeinen Verweisung in § 15 Abs. 4 Satz 1 AufenthG a.F. auf die für die Abschiebungshaft geltende Regelung (§ 62 AufenhG) getreten (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 10. März 2016 - V ZB 188/14, NVwZ-RR 2016, 518 Rn. 10). Hat der Gesetzgeber aber bewusst davon abgesehen, die Zurückweisungshaft unter Rückgriff auf die für die Abschiebungs- und Zurückschiebungshaft geltenden Bestimmungen zu regeln, kommt eine entsprechende Anwendung der Vorschriften aus diesem Bereich grundsätzlich nicht in Betracht. [...]

cc) Gegenüber der Abschiebung und der Zurückschiebung weist die Zurückweisung - für eine Einreiseverweigerung gemäß Art. 14 SGK gilt Entsprechendes - zudem einen entscheidenden strukturellen Unterschied auf. Der Betroffene befindet sich nämlich - rechtlich (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) - nicht im Bundesgebiet, vielmehr soll er noch an der Grenze an der Einreise gehindert werden. In den Fällen der Zurückweisung wird der Beschuldigte den Behörden der Strafverfolgung deshalb nicht "entzogen". § 72 Abs. 4 AufenthG hat nicht den Zweck, den Strafverfolgungsbehörden den Zugriff auf einen noch nicht eingereisten Beschuldigten erst zu ermöglichen. Dies liefe auf einen generellen Vorrang der Strafverfolgung vor dem von den Ausländerbehörden (auch) zu wahrenden Interesse an der Abwehr der illegalen Einreise hinaus und hätte zur Folge, dass dem Beschuldigten ohne Einvernehmen die Einreise gestattet werde müsste. Eine solch weitgehende Bedeutung des Einvernehmens müsste im Gesetz ausdrücklich angeordnet werden. Hieran fehlt es. [...]

3. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, stand der Anordnung der Zurückweisungshaft gemäß § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch der von dem Betroffenen am 11. Januar 2013 gestellte Asylantrag nicht entgegen. [...]

b) Wird Zurückweisungshaft gemäß § 15 Abs. 5 AufenthG angeordnet, gilt nichts anderes. Gemäß § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darf ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nicht zurückgewiesen und deshalb auch nicht mit dem Ziel der Zurückweisung in Haft genommen werden, solange ihm der Aufenthalt im Bundesgebiet nach den Vorschriften des Asylgesetzes gestattet ist. Möchte eine Behörde - wie hier - die Einreise eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 SGK verweigern, ist Satz 2 dieser Bestimmung zu beachten, wonach die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht unberührt bleibt.

c) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts war das Asylverfahren im Zeitpunkt der Haftanordnung noch nicht gemäß § 33 Abs. 1 und 3 AsylG beendet. Nach § 33 Abs. 1 AsylG gilt zwar der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Ebenso verhält es sich, wenn der Ausländer während des Asylverfahrens in seinen Herkunftsstaat gereist ist (§ 33 Abs. 3 AsylG). Dies bedeutet jedoch nicht, dass bereits bei Vorliegen der in § 33 Abs. 1 und 3 AsylG normierten Voraussetzungen die Aufenthaltsgestaltung (§ 55 Abs. 1 AsylG) endet. Vielmehr bedarf es gemäß § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG einer Entscheidung des Bundesamts, durch die das Asylverfahren eingestellt wird. Erst mit der Zustellung dieses Bescheids erlischt gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 3 AsylG die Aufenthaltsgestattung (vgl. BVerwG, NVwZ 1996, 80, 81). Feststellungen zu der Existenz und der Zustellung eines entsprechenden Einstellungsbescheids hat das Beschwerdegericht nicht getroffen.

d) Die Rechtsbeschwerde lässt jedoch unberücksichtigt, dass das Stellen eines Zweitantrages gemäß § 71a Abs. 1 AsylG zu keiner Aufenthaltsgestattung i.S.d. § 55 Abs. 1 AsylG führt und deshalb auch kein Hafthindernis begründet. Von einem solchen Zweitantrag mussten die Haftgerichte hier ausgehen.

aa) Gemäß § 71a Abs. 3 Satz 1 AsylG gilt der Aufenthalt des Ausländers, der einen Zweitantrag stellt, als geduldet. Eine solche Duldung begründet keine Aufenthaltsgestattung i.S.d. § 55 Abs. 1 AsylG, wie sich aus § 71a Abs. 3 Satz 2 AsylG ergibt. Hiernach gelten die §§ 56 bis 67 AsylG entsprechend, auf § 55 AsylG wird nicht verwiesen. Nur wenn das Bundesamt die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bejaht und ein weiteres Asylverfahren durchführt, erlangt der Ausländer eine Aufenthaltsgestattung (ganz überwiegende Meinung, vgl. BeckOK AuslR/Neundorf, 13. Ed. 1.2.2017, AsylG § 55 Rn. 15 f. m.w.N.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 55 AsylG Rh. 12). Dem entspricht es, dass ein Zweitantrag einer Haftanordnung nicht entgegensteht, es sei denn, es wird ein weiteres Asylverfahren durchgeführt (§ 71a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 71 Abs. 8 AsylG). [...]