VG Cottbus

Merkliste
Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 07.11.2017 - 5 K 1230/17.A - asyl.net: M25753
https://www.asyl.net/rsdb/M25753
Leitsatz:

Homo- oder Bisexuelle stellen in Marokko auf Grund des Strafgesetzes gegen Homosexualität eine soziale Gruppe dar. Es liegt allerdings keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen staatlichen Verfolgung von homosexuellen oder bisexuellen Menschen vor. Dies gilt insbesondere für Frauen, gegen die das Gesetz, wenn überhaupt, nur selten angewendet wird (in Abkehr von VG Düsseldorf, Urteil vom 21.12.2016, - 23 K 8700/16.A -, asyl.net: M24556, ASYLMAGAZIN 6/2017, VG Hamburg, Urteil vom 10.08.2017, - 2 A 7784/16, VG Saarland, Beschluss von 02.06.2016, - 3 K 1984/15, VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.11.2015, - 7a K 2425/15.A).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Marokko, homosexuell, bisexuell, Strafbarkeit, Frauen, Strafandrohung, Gesetz, soziale Gruppe, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Freiheitsstrafe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 des Asylgesetzes (AsylG).

19 Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch aufgrund staatlicher Verfolgung wegen ihrer Bisexualität.

20 Dabei unterstellt das Gericht zugunsten der Klägerin als wahr, dass sie bisexuell ist. Der Unterscheidung zwischen Homosexualität und Bisexualität kommt dabei nach Auffassung des Gerichtes bezüglich Marokko keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu (a.A. VG Dresden, Urteil vom 17. November 2016 – 4 K 398/16.A –, juris). [...]

22 Weder in der mündlichen Verhandlung noch an einer anderen Stelle hat die Klägerin auch nur irgendeine Verfolgungshandlung durch den Staat Marokko vorgetragen.

23 Eine solche Verfolgung ist hier auch insbesondere nicht darin zu erblicken, dass homosexuelle Handlungen nach Art. 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches homosexuelle Handlungen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe gestellt werden und Haftstrafen von 6 Monate bis 3 Jahren, Geldstrafen von 200 bis 1000 Dirham verhängt werden können (Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: März 2017), S. 16). Die rein abstrakte Strafandrohung, ohne dass der Antragsteller selbst mit dem Staat insoweit jemals in Konflikt geraten ist, begründet noch keine Verfolgung. Dies gilt auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. dazu unten; a.A. VG Hamburg, Urteil vom 10.08.2017, 2 A 7784/16, S. 9f. EA).

24 Dies erlaubt freilich die Feststellung, dass Homosexuelle in Marokko eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden. Denn das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind (EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris). [...]

26 Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Freiheitsstrafe aufgrund der benannten Normen in Marokko tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verhängt wird, sodass die Klägerin Grund zu der Befürchtung gehabt hätte, verfolgt zu werden (a.A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 23 K 8700/16.A –, juris; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 02. Juni 2016 – 3 K 1984/15 –, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 2015 – 7a K 2425/15.A –, juris).

27 Wie außerehelicher Geschlechtsverkehr wird auch Homosexualität, die im Verborgenen gelebt wird, nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt, in der Regel auf Anzeige von Familien oder Nachbarn (Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: März 2017), S. 16).

28 Auch im Übrigen ergeben die Erkenntnismittel keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung durch den Staat. Allgemein gilt nach den Erkenntnismitteln für Marokko, dass die Verfolgung überwiegend nicht vom Staat ausgeht, sondern – vergleichbar mit anderen muslimisch geprägten Ländern wie beispielsweise Algerien – vor allem gesellschaftliche Kräfte sich gegen Homosexuelle und die LGBT-Gemeinschaft richten, ohne, dass es genauere Erkenntnisse zu Übergriffen, Diskriminierungen oder Anfeindungen gäbe.

29 So ist einem Bericht des Home Office des Vereinigten Königreiches zu der Frage der Verhältnisse für Homosexuelle in Marokko zu entnehmen, dass, obwohl anscheinend von Anklagen in einer Vielzahl nationaler und internationaler medialer Veröffentlichungen berichtet wird, diese nur von geringer Zahl sind und anscheinend nicht der allgemeinen Ansicht widersprechen, dass das Gesetz selten angewandt wird.

30 Es erscheint zudem so, dass wenn das Gesetz angewandt wird, es nur Fälle von Männern betrifft, die gleichgeschlechtliche Handlungen vornehmen; es wird nur selten, wenn überhaupt, bei Frauen angewandt, die gleichgeschlechtliche Handlungen vornehmen. Jenseits der Anwendung von Artikel 489 des Strafgesetzbuches, legen die Erkenntnisse nicht nahe, dass der marokkanische Staat Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft verfolgt. Da das Gesetz nur selten angewandt wird, erreicht es nicht die Schwelle einer allgemein beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (so ausdrücklich Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 6).

31 Die gegenteilige Auffassung in Teilen der Rechtsprechung (VG Hamburg, Urteil vom 10.08.2017, 2 A 7784/16, S. 9f. EA; wohl auch VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 23 K 8700/16.A –, juris; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 02. Juni 2016 – 3 K 1984/15 –, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 2015 – 7a K 2425/15.A –, juris) verkennt aus Sicht des erkennenden Gerichtes den anzulegenden Maßstab.

32 Es genügt nämlich – anders als diese Gerichte (anscheinend) meinen – nicht, dass die Freiheitsstrafe überhaupt verhängt wird. Dies ist nur die Mindestschwelle ab der eine staatliche Verfolgungshandlung durch eine Strafverfolgung angenommen werden kann. Dies wird durch den Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, indem er die staatliche Verhängung von Freiheitsstrafen als Verfolgungshandlung bezeichnet, dann aber sich eingehend mit der Frage der tatsächlichen Gefahr dieser Verfolgung im Falle der unverfolgten Ausreise und dem etwaigen – nach dem Gerichtshof zu verneinenden – Erfordernis eines Verheimlichens der Homosexualität auseinandersetzt (vgl. Antwort zu den Fragen 2a-c, EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris).

33 Weiterhin ist daher – wie bei jeder anderen Verfolgung auch – auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit ("well-founded", "real risk", vgl. Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes) dieser Verfolgung (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22) notwendige Voraussetzung.

34 Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Verfolgung lässt sich anhand der Erkenntnislage selbst bei großzügigster Auslegung nicht annehmen. In Marokko leben 35,28 Millionen Menschen. Nach allgemeiner statistischer Erfahrung dürften hiervon 5-10% homosexuell oder bisexuell orientiert sein. Die Erkenntnismittel gehen jedenfalls von einem Anteil von ca. 3-4% Homosexueller an der Gesamtbevölkerung Marokkos (so Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 10) aus. Selbst wenn man mit diesen Erkenntnissen von einer niedrigen Zahl von nur 1 bis 2 Millionen Homosexuellen in Marokko ausgeht, genügen die festgestellten Verfolgungen durch den Staat in keiner Weise dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

35 Zwar gibt es keine genauen Zahlen über die Verurteilung wegen homosexueller Handlungen in Marokko, zumal zu einer Freiheitsstrafe. Das marokkanischen Justizministerium hat zuletzt 2011 berichtet, dass es in 2011 zu 81 Gerichtsverfahren aufgrund von homosexuellen Handlungen kam (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 2015 – 7a K 2425/15.A –, Rn. 23, juris; auch Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 15). Im Übrigen finden sich lediglich Erkenntnisse zu Einzelfällen (vgl. zu solchen bspw. The Danish Immigration Service, Morocco Situation of LGBT Persons, März 2017, S. 15f.; vgl. auch VG Hamburg, Urteil vom 10.08.2017, 2 A 7784/16, S. 8f. EA).

36 Im April 2016 erregte der Fall eines homosexuellen Paares in Beni Mellal großes Aufsehen. Die Männer wurden zu vier Monaten Haft bzw. einer Bewährungsstrafe wegen homosexueller Handlungen verurteilt, nachdem sie von selbst ernannten Sittenwächtern in ihrem Haus zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben wurden. Zwei der fünf Angreifer wurden nach Revision ebenfalls zu vier und sechs Monaten Haft verurteilt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: März 2017), S. 16; Amnesty International (Deutschland), Amnesty Report 2017 Marokko und Westsahara, 22.02.2017, S. 3).

37 Für die Verfolgung von homosexuellen Frauen ist gar nur ein Fall überhaupt bekannt: Laut mehrfacher medialer Berichterstattung seien zwei Mädchen (16 und 17 Jahre alt) am 09. Dezember 2016 freigesprochen worden, nachdem sie beschuldigt worden waren sich auf einem Dach "umarmt und geküsst" zu haben (so Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 16).

38 Die Berichte des US State Departments gehen davon aus, dass Homosexuelle im Jahr 2013 mindestens zweimal und in den Jahren 2014 bis 2016 je mindestens einmal angeklagt wurden (United States Department of State, Morocco 2016 human rights report; für 2013-2015 siehe Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 13f.). Ein Bericht des Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte führt aus, dass im Jahr 2015 eine Verurteilung von jedenfalls vier Männern wegen homosexueller Handlungen bekannt geworden ist. Ferner seien 20 Personen nach Medienberichten wegen homosexueller Handlungen verhaftet worden (so Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 14). Der Conseil National des Droits de l’Homme Marokkos geht für das Jahr 2015 von vier bis fünf Anklagen wegen Art. 489 Strafgesetzbuch aus (so The Danish Immigration Service, Morocco Situation of LGBT Persons, März 2017, S. 14f. und Home Office UK, Country Policy and Information Note Morocco: Sexual Orientation and Gender Identity; Juli 2017, S. 14f., unter Verweis auf den Bericht des Danish Immigration Service), wobei "Rechtsexperten" in Marokko die Zahl auf 10 bis 20 Anklagen in den Jahren 2015 und 2016 beziffern (so The Danish Immigration Service a.a.O.).

39 In Anbetracht dieser Sachlage kann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der staatlichen Verfolgung nicht bejaht werden. Dabei kann es offenbleiben, ab welcher Quantität von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auszugehen ist. Das Gericht sieht zwar keinen Grund den insoweit anzulegenden Maßstab grundsätzlich zu klären, lehnt sich aber insoweit an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sog. bodycount bzw. zur Gruppenverfolgung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, BVerwGE 146, 67-89) an, nach der jedenfalls ein Risiko von 1:800 unbeachtlich ist (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 –, Rn. 23, juris). Bei wenigstens 1 Million Homosexueller in Marokko ist eine Zahl von 10-20, schlimmstenfalls 81 strafrechtlicher Verfahren (deren Ausgang, insbesondere in Bezug auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe offen ist), verschwindend gering und dementsprechend auch das Risiko einer Verfolgung von verschwindend geringem Gewicht. [...]