VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.12.2017 - 17 K 176.17 A - asyl.net: M25786
https://www.asyl.net/rsdb/M25786
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen, gesunden Mann, der jedoch keine Ausbildung und kaum Berufserfahrung hat und dem es an Durchsetzungskraft und Kommunikationsfähigkeit fehlt.

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

III. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Der UNHCR ist im April 2016 trotz der schlechten Wirtschaftslage und der verschärften Konkurrenzsituation zu dem Ergebnis gelangt, dass alleinstehende, leistungsfähige Männer sowie verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben können, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen. Dies wird durch aktuelle Studien des UNHCR zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan bestätigt. Unter den dafür befragten Personen, die im Jahr 2015 nach Afghanistan zurückkehrten, waren viele Flüchtlinge der zweiten oder dritten Generation, die noch nie in Afghanistan gelebt haben. Dennoch berichteten 97 Prozent der Befragten bei einem Interview ein bis drei Monate nach der Rückkehr, durch die lokale Gemeinschaft gut aufgenommen worden zu sein (UNHCR, Voluntary Repatriation to Afghanistan 2015, 1. Januar 31. Dezember 2015 [UNHCR, Voluntary Repatriation 2015), S. 1 und 6). Die Befragten nahmen die Suche nach einer Unterkunft zwar als problematisch wahr, doch lebten sechs bis acht Monate nach der Rückkehr 90 Prozent in Häusern, auch wenn sie sich diese teilweise mit anderen Haushalten teilen mussten. Nur ein Zehntel der Befragten mussten in einer vorübergehenden Unterkunft wie einem einem öffentlichen Gebäude oder in sonstigen Unterkünften leben (vgl. BayVGH, Urteil vom 23. März 2017 - 13a B 17.30030 -, AuAS 2017, 175, juris Rn. 18 ff., VG Berlin, Urteil vom 14. Juni 2017 - VG 16 K 207.17 A -, juris Rn. 40 ff., VG Lüneburg, Urteil vom 15 Mai 2017 - 3 A 102/16 -, AuAS 2017, 156, juris Rn 62 ff.).

Entsprechend geht auch die obergerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass alleinstehende junge, gesunde Männer ihre Existenz grundsätzlich sichern können (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 - juris Rn. 76 f.; OVG Münster, Beschluss vom 8. Juni 2016 - 13 A 1222/16.A - juris Rn. 10; VGH München, Beschluss vom 30. September 2015 - 13a ZB 15.30063 - juris Rn. 6 und Urteil vom 12. Februar 2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 43 ff.; VGH Mannheim, Urteil vom 27 April 2012 - A 11 S 3079/11 - juris Rn. 33 ff.).

Beim Kläger liegt jedoch ein Ausnahmefall vor. Er weist Besonderheiten auf, die ihn im Verhältnis zu den anderen Männern in Afghanistan im Konkurrenzkampf um existenzsichernde Tätigkeiten wesentlich benachteiligen.

Der Kläger verfügt mit Ausnahme von Aushilfsarbeiten in der Landwirtschaft seines Vaters über keine Berufserfahrung. In der mündlichen Verhandlung vermittelte er den Eindruck eines wenig gewandten Menschen mit geringer Kommunikationsfähigkeit und Durchsetzungskraft. Kommunikationsstärke und Durchsetzungskraft sind jedoch auf dem afghanischen Arbeitsmarkt sehr wichtig (Lutze, Auskunft an das OVG Koblenz vom 8. Juni 2011, Seite 9 und 12).

Die geschilderten Defizite im Konkurrenzkampf um existenzsichernde Tätigkeiten können auch nicht durch familiäre Unterstützung ausgeglichen werden. Nach den - insoweit - glaubhaften Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist sein Vater ist bereits verstorben und seine Mutter versorgt neben ihrer eigenen Person auch noch seine Geschwister, weshalb sie den Kläger nicht entscheidend bei seiner Existenzsicherung zu unterstützen in der Lage sein wird. Dies wird auch der Onkel nicht können, bei dem die Mutter und die Geschwister des Klägers Inzwischen in Jalalabad leben. Der Onkel hat selbst seine Ehefrau und zwei Kinder zu versorgen.

Da der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistan aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m Art 3 EMRK hat, bedarf es keiner weiteren Entscheidung mehr über das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 S. 1 AufenthG. Wenn die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG bilden einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 11). [...]