OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.12.2017 - 10 LA 116/17 - asyl.net: M25800
https://www.asyl.net/rsdb/M25800
Leitsatz:

Einem Ausländer, dessen Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, weil ihm Bulgarien bereits internationalen Schutz gewährt hat, ist gemäß § 35 AsylG die Abschiebung anzudrohen. Eine statt dessen erfolgte Abschiebungsanordnung ist rechtswidrig und verletzt den Ausländer in seinen Rechten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsandrohung, Abschiebungsanordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34a, AsylG § 35,
Auszüge:

[...]

15 Die Anordnung der Abschiebung ist bereits deshalb rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten, weil statt einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG nur eine Abschiebungsandrohung gemäß § 35 AsylG in der seit dem 6. August 2016 geltenden Fassung (Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016, BGBl. I 1939 ff.) hätte ergehen dürfen. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt der Senat auf diese zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag der Beklagten geltende Rechtslage ab.

16 Die Beklagte hat die Asylanträge der Klägerinnen wegen des ihnen bereits in Bulgarien zuerkannten internationalen Schutzes als unzulässig abgewiesen. Diese Abweisung der Asylanträge lässt sich unter Geltung des Asylgesetzes in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 nur auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Gemäß § 35 AsylG ist in den Fällen (u. a.) des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat anzudrohen, in dem er vor Verfolgung sicher war.

17 Die stattdessen ausgesprochene Abschiebungsanordnung ist rechtswidrig. Sie kann auch nicht teilweise als Abschiebungsandrohung aufrechterhalten werden. Abschiebungsanordnung und Abschiebungsandrohung stellen unterschiedliche Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung dar, die nicht teilidentisch sind (BVerwG, Beschluss vom 23.10.2015 – 1 B 41.15 –, juris Rn. 15).

18 Die rechtswidrige Abschiebungsanordnung verletzt die Klägerinnen auch in ihren Rechten. Die Klägerinnen können sich als Adressaten der Abschiebungsanordnung ohne Weiteres darauf berufen, dass die als einschlägig erkannte und herangezogene Befugnisnorm eine solche Rechtsfolge nicht vorsieht (vgl. für den umgekehrten Fall einer Abschiebungsandrohung statt einer -anordnung BayVGH, Beschluss vom 14.06.2016 – 21 ZB 16.30074 –, juris Rn. 8, 10).

19 Die Abschiebungsanordnung verschlechtert auch die Rechtsstellung der Klägerinnen. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung führt dazu, dass ein Ausländer unmittelbar von Abschiebung bedroht ist. Die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise binnen einer (kurzen) Frist gemäß den §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entfällt von vornherein.

20 Auch verfahrensrechtlich verschlechtert sich die Position eines betroffenen Ausländers, wenn ihm gegenüber eine Abschiebungsanordnung statt einer -androhung bestandskräftig wird. Im Falle nach Bestandskraft eintretender Veränderungen der Sachlage obliegt es dann allein dem Bundesamt zu prüfen, ob i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (weiterhin) "feststeht", dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Es hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20.06.2017 – 13 PA 104/17 –, juris Rn. 16; Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.04.2015 – 10 CE 15.810 –, juris Rn. 4). Ist die Abschiebungsanordnung bereits unanfechtbar und damit bestandskräftig geworden und will der Betroffene eine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage – etwa zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote oder inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse – geltend machen, muss er in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 (oder Abs. 5) VwVfG einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen und im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage eine Sachentscheidung erzwingen. Solange die (bestandskräftige) Abschiebungsanordnung nicht aufgehoben worden ist, kommt der Ausländerbehörde, die die Abschiebungsanordnung des Bundesamts nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchführt, grundsätzlich keine eigene Entscheidungskompetenz bezüglich der vorläufigen Aussetzung der Vollziehung wegen eines nachträglich geltend gemachten (inlands- oder zielstaatsbezogenen) Abschiebungshindernisses zu (Niedersächsisches OVG, a.a.O., juris Rn. 17, Bayerischer VGH, a.a.O., juris Rn. 5). Eine Duldung kann der Ausländer also erst im Anschluss an eine – ggfs. erzwungene – Aufhebung der Abschiebungsanordnung im zweiten Schritt erreichen (vgl. Bayerischer VGH, a.a.O., juris Rn. 5). Im Falle einer Abschiebungsandrohung verbleibt es hingegen bei der Kompetenz der Ausländerbehörde, inländischen Vollzugshindernissen – unabhängig davon, wann sie eintreten – durch eine Duldung unter den Voraussetzungen des § 60a AufenthG Rechnung zu tragen. [...]