VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 12.12.2017 - 6 L 511/17.A - asyl.net: M25804
https://www.asyl.net/rsdb/M25804
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Ablehnung ein Zweitantragsverfahren durchzuführen:

1. Im Zweitantragsverfahren ist die Anhörung nur dann nicht erforderlich, wenn nach Aktenlage offenkundig ist, dass sich die Sach- oder Rechtslage nicht zugunsten der Betroffenen geändert haben kann.

2. Durch die Abschiebung des gewalttätigen Ehemanns ist die Antragstellerin (die sich erst in Deutschland von ihm getrennt hat) in einer ähnlichen Lage wie eine Frau, die vor häuslicher Gewalt aus Tschetschenien geflohen ist.

3. Die Zuerkennung internationalen Schutzes für verheiratete Frauen aus dem Nordkaukasus, die in oder nach ihrer Ehe Gewalt ausgesetzt sind, ist nicht ausgeschlossen, da sie jedenfalls teilweise aus der staatlichen Friedensordnung ausgegrenzt sind und von ihnen nicht erwartet werden kann, sich in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation niederzulassen (zitiert: VG Berlin, Urteil vom 18.5.2017 - VG 33 K 307.16A).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Änderung der Sachlage, Tschetschenien, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Anhörung, Anhörung,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 71a Abs. 2 S. 2, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt hätte den am 15. Juli 2016 persönlich gestellten (zweiten) Zweitantrag jedenfalls nicht ohne die Anhörung der aus Tschetschenien stammenden Antragstellerin zu 1) bescheiden dürfen.

Von der Anhörung kann nämlich nur dann abgesehen werden, soweit sie für die Feststellung, dass kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, nicht erforderlich wäre, § 71a Abs. 2 Satz 2 AsylG. Dies wäre allenfalls dann der Fall, wenn bereits ohne Anhörung offenkundig wäre, dass sich die Sach- oder Rechtslage nicht nachträglich zugunsten der Betroffenen geändert haben kann, § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG.

So liegt es hier aber nicht. Denn eine solche Feststellung ist Im vorliegenden Fall ohne Anhörung nicht möglich. [...]

Neu hinzugekommen ist hier jedoch der Umstand, dass der Ehemann bzw. Vater der Antragsteller mittlerweile in sein Herkunftsland abgeschoben worden ist und nach dem schlüssigen Vortrag der Antragsteller seine zumindest verbale Gewalt weiterhin von dort gegen die Antragsteller einsetzt. Soweit die räumliche Trennung sich deshalb für die Antragsteller rein faktisch günstig auswirkt, weil sie trotz dieser Drohungen derzeit im Bundesgebiet Insoweit einigermaßen sicher sind, ist dieser Effekt hier zwar ohne Belang.

Die neue Sachlage kann sich aber dennoch zugleich In Bezug auf die bisherige Bescheidslage möglicherweise zugunsten der Antragsteller auswirken, weil diese bei einer gedachten Abschiebung in ihr Herkunftsland wie vorgetragen nunmehr befürchten müssten, dem Ehemann bzw. Vater der Antragsteller aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort schutzlos ausgeliefert zu sein. Damit ist die nach der Abschiebung des Ehemanns bzw. Vaters der Antragsteller neu eingetretene Situation der Antragsteller vergleichbar mit derjenigen von Personen, die aus ihrem Herkunftsland geflohen sind, weil sie vor Ort schutzlos gegen häusliche Gewalt sind.

In solchen Fällen ist die Zuerkennung internationalen Schutzes nicht von vornherein ausgeschlossen. Denn verheiratete Ehefrauen aus dem Nordkaukasus, die in oder nach ihrer Ehe Gewalt ausgesetzt sind, sind jedenfalls teilweise aus der staatlichen Friedensordnung ausgegrenzt und von ihnen kann auch nicht erwartet werden, sich in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation niederzulassen (VG Berlin, Urt. v. 18. Mai 2017 VG 33 K 307.16A). Ob dies auch für die Antragstellerin zu 1) gilt, wäre vorrangig durch das Bundesamt näher aufzuklären gewesen, was jedenfalls eine persönliche Anhörung zu den näheren Umständen der geschilderten Drohungen für die Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, unverzichtbar macht. [...]