VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1538/16 - asyl.net: M25823
https://www.asyl.net/rsdb/M25823
Leitsatz:

Sunnitischen Glaubenszugehörige sind im Irak weder landesweit noch regional von einer Gruppenverfolgung bedroht. Entsprechendes gilt für Angehörige des Stammes Dulaimi.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Dulaimi, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Gruppenverfolgung, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Zu Recht ist die Beklagte davon ausgegangen, dass sich auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers, der sich im Wesentlichen auf eine Gefährdung wegen seiner sunnitischen Glaubenszugehörigkeit sowie seiner Zugehörigkeit zum Stamm ... bzw. Dulaimi berufen hat, eine begründete Verfolgungsfurcht im Verständnis von § 3 Abs. 1 AsylG nicht feststellen lässt. Sunnitische Glaubenszugehörige sind im Irak weder landesweit noch regional von einer Gruppenverfolgung bedroht. Zwar hat die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber in Bagdad und anderen von der irakischen Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. Sunniten, die bis zur Entmachtung Saddam Husseins 2003 über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildeten, sind nicht selten Übergriffen schiitischer Milizen ausgesetzt, die Folter, körperliche Strafen, Verwundungen und den Tod zur Folge haben können (vgl. hierzu UNHCR, UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak, vom 14.11.2016; ferner Urteil der Kammer vom 28.11.2017, 6 K 1563116; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 26.01.2017, A 3 K 4020/16, zitiert nach juris, unter Hinweis auf UK Home Office, Iraq: Sunni (Ara) Muslims, August 2016, S. 23 ff.).

Gleichwohl weisen die Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil im Irak ausgesetzt ist, nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte auf. Der Umfang der Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Glaubenszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 07.02.2017, 508-516.8013 IRQ, wonach arabische Sunniten 17 bis 22 % der Bevölkerung ausmachten) nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung (ebenso BayVGH, Urteile vom 01.02.2017, 13a ZB 16.30990, und vom 09.01.2017, 13a ZB 16.30740, jeweils zitiert nach juris).

Entsprechendes gilt für Angehörige des Stammes ... Bei dem Stamm der ... der vorwiegend in der Region Al-Anbar, westlich von Bagdad, ansässig ist, handelt es sich um einen uralt-arabischen, sehr berühmten Stamm (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft an VG Regensburg vom 01.04.2003). Dafür, dass allein die Zugehörigkeit zu diesem Stamm gruppengerichtete Verfolgungshandlungen nach sich ziehen würde, bietet die Erkenntnislage keinen Anhalt. [...]

Angesichts dessen kann, selbst wenn man davon ausgeht, dass zu den genannten Zahlen eine nicht unerhebliche Dunkelziffer hinzutritt, nicht angenommen werden, dass der Grad willkürlicher Gewalt in Bagdad bzw. im Großraum Bagdad ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Dies gilt auch in Ansehung der angespannten medizinischen Versorgungslage in Bagdad (vgl. zu einer Gefahrendichte von 0,19 % OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.10.2010, 9 A 3642/06.A, zu einer Gefahrendichte von 0,18 % BayVGH, Urteil vom 21.01.2010, 13a B 08.30283, jeweils zitiert nach juris; ferner BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, 10 C 13.10, a.a.O., wonach das festgestellte Risiko eines drohenden Schadens von 0,125 % so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt sei, dass sich die unterbliebene Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage im Ergebnis nicht auf die Entscheidung auswirken könne). [...]

Die sunnitische Religionszugehörigkeit des Klägers stellt ebenfalls keinen persönlichen Umstand dar, der den Kläger als von allgemein in Bagdad herrschender willkürlicher Gewalt stärker betroffen erscheinen ließe. Zwar hat, wie dargelegt, auch in Bagdad die zielgerichtete Gewalt gegen Sunniten seit 2014 zugenommen. Eine etwaige Bedrohung aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit hängt in Bagdad allerdings stark vom genauen Aufenthalts- bzw. Wohnort ab. Nach dem Sturz Saddam Husseins und der nachfolgenden Besetzung des Landes fand besonders in der Hauptstadt Bagdad eine konfessionelle Segregation statt; vormals gemischt bewohnte Stadtteile wurden oft durch Migration innerhalb der Stadt homogenisiert. Demnach gibt es in Bagdad heute auf der einen Seite schiitische und auf der anderen Seite sunnitische Bezirke (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft an VG Stuttgart vom 03.04.2017; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle, Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016, Lage von Sunniten, vom 27.03.2017).

Jedenfalls in den von Sunniten bewohnten Bezirken Bagdads stellt die Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft danach keinen individuellen Umstand dar, der eine erhöhte Gefährdung begründet (vgl. Urteil der Kammer vom 28.11.2017, 6 K 1037/16; ebenso VG Karlsruhe, Urteils vom 26.01.2017, A 3 K 4020/16, a.a.O.). [...]