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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.11.2017 - 11 K 7574/17 - asyl.net: M25824
https://www.asyl.net/rsdb/M25824
Leitsatz:

1) § 9 Abs. 1 StAG setzt lediglich eine gültig geschlossene und im Zeitpunkt der Einbürgerung noch bestehende Ehe voraus.

2) Besteht zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einbürgerungsantrag keine eheliche Lebensgemeinschaft, so liegt ein atypischer Fall vor, der den Rechtsanspruch auf Einbürgerung nach § 9 Abs. 1 StAG beseitigt und der Einbürgerungsbehörde die Möglichkeit eröffnet, die Einbürgerung nach Ermessen zu verweigern.

3) Ist die Einbürgerungsbehörde zum Zeitpunkt der Einbürgerung zu Unrecht vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft des Einbürgerungsbewerbers mit einem deutschen Staatsangehörigen ausgegangen, so liegt regelmäßig eine rechtswidrige Einbürgerung vor.

4) Eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht dann nicht mehr, wenn die Ehegatten auf Dauer getrennt leben; maßgebend ist das Ende der tatsächlichen Verbundenheit der Eheleute.

5) Art und Weise des Zusammenlebens bestimmen die Eheleute eigenverantwortlich. Die nähere Ausgestaltung der ehelichen Gemeinschaft gehört zu ihrer geschützten Privatsphäre.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, Rücknahme, deutscher Ehegatte, eheliche Lebensgemeinschaft,
Normen: StAG § 9, StAG § 8,
Auszüge:

[...]

29 Als rechtswidrig erweist sich die Einbürgerung des Klägers auch nicht deshalb, weil das Landratsamt ... bei seiner Entscheidung von einer (fortbestehenden) ehelichen Lebensgemeinschaft ausgegangen ist.

30 Zwar lässt das Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft nicht bereits den Tatbestand des § 9 Abs. 1 StAG entfallen; dieser Umstand rechtfertigt aber die Annahme eines atypischen Falles, der den grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Einbürgerung beseitigt und der Staatsangehörigkeitsbehörde die Möglichkeit eröffnet, die Einbürgerung ausnahmsweise nach Ermessen zu verweigern (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.08.1981 - 1 C 185/79 - BVerwGE 64, 7 und Urt. v. 31.03.1987 - 1 C 29/84 - BVerwGE 77, 164). Dass das Vorliegen einer atypischen Fallgestaltung die Versagung der Einbürgerung rechtfertigen kann, folgt aus der Ausgestaltung des § 9 Abs. 1 StAG als Sollvorschrift, die ein Restermessen eröffnet. Atypisch sind vornehmlich solche Sachverhalte, auf die ihrer gesetzlichen Zweckbestimmung nach die Privilegierung des § 9 Abs. 1 StAG nicht zielt, die aber von ihrem abstrakten Rahmen erfasst werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.09.2003 - 1 C 6/03 - BVerwGE 119, 17, Urt. v. 31.03.1987 - 1 C 29/84 - a.a.O. und Urt. v. 16.05.1983 - 1 C 28/81 - NJW 1984, 70. Dies gilt vor allem für Missbrauchsfälle, z.B. für Scheinehen, kann aber auch in Betracht kommen, wenn die Ehe des Einbürgerungsbewerbers zum Zeitpunkt der Einbürgerung gescheitert ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.09.2003 - 1 C 6/03 - a.a.O. und Urt. v. 16.05.1983 - 1 C 28/81 - a.a.O.; VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2002 - 13 S 2039/01 - InfAuslR 2003, 205; VGH München, Urt. v. 04.05.2005 - 5 B 03.1679 - BayVBl 2007, 117; HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, Stand: 10.11.2017, Rn. 46 m.w.N.). Ist die Staatsangehörigkeitsbehörde zum Zeitpunkt der Einbürgerung zu Unrecht vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft des Einbürgerungsbewerbers mit einem deutschen Staatsangehörigen ausgegangen, so kann regelmäßig von einer rechtswidrigen Einbürgerung ausgegangen werden (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 09.08.2007 - 13 S 2885/06 - InfAuslR 2008, 41 und Urt. v. 29.11.2002 - 13 S 2039/01 - InfAuslR 2003, 205).

31 Das Gericht ist davon überzeugt, dass ein Scheitern der Ehe des Klägers mit der deutschen Staatsangehörigen ... zum Zeitpunkt seiner Einbürgerung (noch) nicht vorgelegen hat.

32 Ein Scheitern der Ehe liegt vor, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Eheleute sie wiederherstellen; eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht dann nicht mehr, wenn die Ehegatten auf Dauer getrennt leben (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 73 und 75, jeweils m.w.N.). Dabei ist nicht die formale Beendigung der Ehe entscheidend, sondern wann die tatsächliche Verbundenheit der Eheleute, die regelmäßig in der Pflege einer häuslichen Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, geendet hat (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 76 m.w.N.). Von einer dauerhaften Trennung ist auszugehen, wenn die Trennung nach dem ernsthaften, nach außen verlautbarten Willen beider oder auch nur eines der Ehepartner als dauerhaft betrachtet wird (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 78).

33 Nach diesen Grundsätzen war die Ehe des Klägers mit seiner früheren Ehefrau zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Einbürgerung nicht gescheitert. [...]

35 Soweit die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geltend machten, zum Zeitpunkt der Einbürgerung habe keine intakte Ehe bestanden, da die (frühere) Ehefrau des Klägers auf sich allein gestellt gewesen sei (z.B. bei Erledigung der alltäglichen Dinge des Lebens), werden die Anforderungen an eine eheliche Lebensgemeinschaft verkannt. Eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht bereits dann, wenn bei beiden Eheleuten die Absicht zur Begründung einer ehelichen Lebensgemeinschaft - in welcher Form auch immer - besteht; angesichts der Vielfalt der von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der ehelichen Lebensgemeinschaft ist ausgeschlossen, schematische oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu formulieren (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 52, 53, jeweils m.w.N.). Art und Weise des Zusammenlebens bestimmen die Eheleute eigenverantwortlich; die nähere Ausgestaltung der ehelichen Gemeinschaft gehört zu ihrer geschützten Privatsphäre (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 57 m.w.N.). Entscheidend ist auch nicht das Motiv des ehelichen Zusammenlebens, sondern vielmehr allein, ob die Ehegatten die dem Bild der Ehe entsprechende persönliche Beziehung tatsächlich unterhalten (vgl. HTK-StAR / § 9 StAG / zu Abs. 1, a.a.O. Rn. 61 m.w.N.). [...]