Im Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf Niederlassungserlaubnis kann nach Ermessen auf den Nachweis von Kenntnissen der deutschen Schriftsprache und der Rechts- und Gesellschaftsordnung der BRD verzichtet werden, wenn die die betroffene Person ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage ist, den Abschlusstest des Integrationskurses zu bestehen und ansonsten im Alltag gut zurechtkommt (hier: Analphabetin aus bildungsfernem familiärem Hintergrund).
(Leitsätze der Redaktion)
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Allerdings kann nach der Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG im Übrigen zur Vermeidung einer Härte von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden. Der Gesetzgeber hat hier an Fälle gedacht, in denen die Betroffenen z. B. trotz verstärkter Bemühungen die Anforderungen unverschuldet nicht erfüllen können. Auch bei strikter Zuwanderungssteuerung im Bereich der wirtschaftlichen Migration wird es immer Einzelfälle, etwa im Rahmen der Familienzusammenführung, geben, in denen die Betroffenen bei aller Anstrengung - und selbst bei Berücksichtigung von Alter und Bildungsstand - die geforderten Kenntnisse nicht in hinreichendem Maße erwerben können. Dies kann beispielsweise bei "bildungsfernen" Menschen vorkommen, die in einer anderen Schriftsprache sozialisiert worden sind. Es soll nicht hingenommen werden, dass diesen Menschen dauerhaft eine Aufenthaltsverfestigung vorenthalten wird, obwohl sie im Alltagsleben erkennbar zurechtkommen und sie alle zumutbaren Anstrengungen unternommen haben, um die von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG geforderten Kenntnisse zu erwerben (vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 72 ff.).
Dies zugrunde legend ergibt sich für die Klägerin ein Härtefall im Verständnis von § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG schon aus dem Umstand, dass sie Analphabetin ist und es ihr nicht in zumutbarer Weise möglich ist, die Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse sowie die Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu erfüllen. Trotz ihrer Teilnahme an einem Integrationskurs mit Alphabetisierung, in dessen Rahmen sie insgesamt 600 Unterrichtsstunden absolviert hat, ist es der Klägerin nicht gelungen, die nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG geforderten Kenntnisse in hinreichendem Maße zu erwerben. Dass es der Klägerin unabhängig von ihrer Teilnahme an dem Integrationskurs möglich gewesen wäre oder auch künftig noch möglich wäre, ihren Analphabetismus, etwa durch die Inanspruchnahme besonderer Schulungskurse, beheben zu können, ist für die Kammer nicht erkennbar. Die Teilnahme an entsprechenden Kursen war und ist der Klägerin bereits aufgrund der Versorgung und Erziehung ihres minderjährigen Kindes sowie ihrer Erwerbstätigkeit dauerhaft erschwert, so dass auch die Möglichkeiten, sich die geforderten Kenntnisse anzueignen, erheblich eingeschränkt sind. Dem entsprechend hat auch der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung nicht aufzuzeigen vermocht, dass für die Klägerin geeignete, die Erziehung und Versorgung ihres minderjährigen Kindes sowie ihre Erwerbstätigkeit nicht wesentlich beeinträchtigende Sprachkurse mit der Möglichkeit einer Alphabetisierung zur Verfügung stünden. Vor diesem Hintergrund und eingedenk der Tatsache, dass es sich bei der Klägerin ersichtlich um einen "bildungsfernen" Menschen handelt, ist die Annahme eines im Fall der Klägerin bestehenden Härtefalles im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, an dessen Vorliegen keine strengen Anforderungen zu stellen sind (vgl. Bayrischer VGH, Beschluss vom 18.06.2015, 10 C 15.675, sowie VG Würzburg, Urteil vom 16.01.2017, W 7 K 16.725, jeweils zitiert nach juris) ohne Weiteres gerechtfertigt. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin sowohl im Alltags- als auch im Berufsleben ersichtlich ohne Schwierigkeiten zurechtkommt.
Kann sich die Klägerin danach auf die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG berufen, nach der zur Vermeidung einer Härte von den Erfordernissen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden kann, hat der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis in den angefochtenen Bescheiden unter Hinweis auf das Nichtvorliegen einer Härte im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG mithin zu Unrecht abgelehnt. [...]