VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 19.12.2017 - 4 K 4415/17.A - asyl.net: M25859
https://www.asyl.net/rsdb/M25859
Leitsatz:

Zuständigkeitsübergang bei unvollständigem Übernahmeersuchen:

1. Die Zuständigkeit für das Asylverfahren geht auch dann auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn das Aufnahmeersuchen zwar rechtzeitig gestellt wurde, aber unvollständig war (hier fehlten Passkopien u.ä. zum Nachweis, dass die Betreffende mit einem spanischen Schengen-Visum in die EU eingereist war).

2. Können sich die beiden Mitgliedstaaten nicht innerhalb von zwei Monaten einigen, geht die Zuständigkeit ebenfalls auf den Mitgliedstaat über, in dem sich die asylsuchende Person aufhält.

3. Die Fristen zur Stellung und zur Annahme des Aufnahmegesuchs sind drittschützend und begründen ein subjektives Recht der antragstellenden Person.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Übernahmeersuchen, Aufnahmeerklärung, Frist, Beweislast, Mengesteab, VIS-Treffer, subjektives Recht, Visum, Zuständigkeit, Zuständigkeitsübergang, Dublin III-Verordnung, Durchführungsverordnung,
Normen: VO 1560/2003 Art. 5 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 12 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO kann ein Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für den Fall, dass er einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen. Im Falle einer Eurodac-Treffermeldung ist dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung zu stellen (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin-III-VO). Wird das Aufnahmegesuch nicht innerhalb der vorgenannten Fristen gestellt, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin-III-VO).

Zwar hat das Bundesamt, nachdem es am 18. April 2017 von der Existenz des durch die spanischen Behörden ausgestellten Schengen-Visums Kenntnis erlangt und den entsprechenden Treffer in der VIS-Datenbank erhalten hat, das Aufnahmegesuch bereits am 4. Mai 2017 und damit grundsätzlich fristgerecht, namentlich innerhalb der 3-Monatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO, an die spanischen Behörden gerichtet.

Allerdings spricht nach der Aktenlage vieles dafür, dass die Antragsunterlagen nicht vollständig waren und das Aufnahmegesuch mithin nicht formgerecht gestellt wurde.

Gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO) (Durchführungsverordnung zur Dublin-IIVO), der mangels anderslautender Regelungen in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 (Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO) entsprechend weiterhin Anwendung findet, werden Aufnahmegesuche mithilfe eines Formblattes entsprechend dem Muster in Anhang I der Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO gestellt. Dem Gesuch sind u.a. Kopien aller Beweismittel und Indizien, die auf die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats für die Prüfung des Asylantrags hinweisen, ggf. ergänzt durch Anmerkungen zu den Umständen ihrer Erlangung bzw. zu der Beweiskraft, die ihnen der ersuchende Mitgliedstaat unter Bezugnahme auf die in Art. 18 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO) genannten Verzeichnisse der Beweismittel und Indizien, die in Anhang II der Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO enthalten sind, zumisst, beizufügen (Art. 1 Abs. 1 Satz 4 lit. a) Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO). Gemäß "Verzeichnis A Beweise", I. 5. Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO gelten als Beweise das ausgestellte Visum (gültig oder abgelaufen, je nach Lage des Falls), der Auszug aus dem Ausländerregister oder entsprechenden Registern sowie Berichte/Bestätigung der Angaben durch den Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat.

Gemäß Art. 1 Ziffer 1 Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO gilt in Bezug auf Visa-Treffer darüber hinaus Folgendes: Ist das vom Visa-Informationssystem (VIS) gemäß Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und Rates übermittelte Ergebnis des Vergleichs des Fingerabdrucks der Person, die internationalen Schutz beantragt, mit früheren Abdrücken, die dem VIS gemäß Art. 9 der genannten Verordnung übermittelt und gemäß Art. 21 derselben Verordnung geprüft wurden, positiv, so enthalten die Gesuchsunterlagen auch die vom VIS mitgeteilten Angaben.

Gemessen an diesen Vorgaben war das Aufnahmegesuch vom 4. Mai 2017 nicht formgerecht gestellt. Denn die Dublin-Unit des Bundesamtes hat dem Aufnahmegesuch nicht - was nach den vorstehenden Ausführungen erforderlich gewesen wäre - den ihm seit der Antragstellung am 18. April 2017 bekannten Treffer in der VISDatenbank (Treffer-Nr. ABC...) beigefügt. Erst mit Remonstrationsschreiben vom 24. Juli 2017 - und damit mehr als drei Monate nach Antragstellung (vgl. Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO) - hat das Bundesamt den spanischen Behörden eine Kopie des entsprechenden VIS-Treffers übersandt.

b. Selbst wenn man das Aufnahmegesuch vom 4. Mai 2017 als form- und fristgerecht gestellt ansähe, ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin jedenfalls aber wegen eines Ablaufs der Frist zur Annahme des Aufnahmegesuchs (Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO) auf die Bundesrepublik Deutschland übergangen. Denn die spanischen Behörden haben das Aufnahmegesuch ihrerseits nicht innerhalb der vorgesehenen Frist von zwei Monaten nach Erhalt des Gesuchs (Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO) angenommen, sondern bis zu diesem Zeitpunkt (4. Juli 2017) einer Aufnahme der Klägerin (noch) widersprochen. Folge dessen ist, dass Deutschland jedenfalls aufgrund dessen für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig geworden ist.

Gemäß Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO nimmt der ersuchte Mitgliedstaat die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Gesuchs. Die im Gesuch angeführten rechtlichen und faktischen Argumente werden dabei anhand der Dublin-II-VO und der in Anhang II der Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO enthaltenen Liste der Beweismittel und Indizien geprüft (vgl. Art. 3 Abs. 1 Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO, der mangels anderslautender Regelungen in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 (Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO) entsprechend weiterhin Anwendung findet). Der um Aufnahme ersuchte Mitgliedstaat prüft dabei unbeschadet der im Aufnahmegesuch geltend gemachten Kriterien und Bestimmungen der Dublin-II-VO innerhalb der in Art. 18 Abs. 1 Dublin-II-VO (Anm.: dies entspricht der Regelung in Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO) genannten Frist auf umfassende und objektive Weise und unter Berücksichtigung sämtlicher ihm unmittelbar und mittelbar verfügbaren Informationen, ob seine Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags begründet ist (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO, der mangels anderweitiger Regelungen in der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO entsprechend weiter gilt). Wenn diese Überprüfungen ergeben, dass die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats zumindest aufgrund eines Kriteriums der Dublin-II-VO begründet ist, muss dieser seine Zuständigkeit anerkennen (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO, der mangels anderweitiger Regelung in der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO entsprechend weiter gilt). Vertritt der ersuchte Mitgliedstaat nach Prüfung der Unterlagen die Auffassung, dass sich aus ihnen nicht seine Zuständigkeit ableiten lässt, erläutert er in seiner ablehnenden Antwort an den ersuchenden Mitgliedstaat ausführlich sämtliche Gründe, die zu der Ablehnung geführt haben (Art. 5 Abs. 1 Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO, die mangels entsprechender Regelung in der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO entsprechend weiter gilt). Vertritt der ersuchende Mitgliedstaat die Auffassung, dass die Ablehnung auf einem Irrtum beruht, oder kann er sich auf weitere Unterlagen berufen, ist er berechtigt, eine neuerliche Prüfung seines Gesuchs zu verlangen. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt binnen zwei Wochen eine Antwort. Durch dieses zusätzliche Verfahren ändern sich in keinem Fall die in Art. 18 Abs. 1 und 6 Dublin- II-VO vorgesehenen Fristen (Art. 5 Abs. 2 Durchführungsverordnung zur Dublin-II-VO, die mangels anderslautender Regelungen in der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO entsprechend weiter gilt).

Wird innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO keine Antwort erteilt, so ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen (Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO). [...]

Die Klägerin kann sich auch auf den Ablauf der Frist zur Annahme des Aufnahmegesuchs berufen. Denn diese Vorschriften der Dublin-III-VO sind drittschützend (vgl. zum Fristablauf nach Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO: EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 -, juris Rn. 49 ff.). [...]