Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für einen jungen Mann, der im Iran geboren und aufgewachsen ist, da er weder über den in Afghanistan für ein Überleben notwendigen familiären Rückhalt noch über eine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung verfügt.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistans. Soweit der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 04.09.2017 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger aber der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Hinsichtlich des Klägers steht zu befürchten, dass er aufgrund der dortigen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Zwar ist davon auszugehen, dass dem Kläger im Fall einer Abschiebung keine konkreten Maßnahmen drohen. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Schlechte humanitäre Bedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt und den Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG eröffnet (vgl. BayVGH, B. v. 11.01.2017 - 13a ZB 16.30878; U. v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, beide juris).
Zwar wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger junger männlicher Rückkehrer grundsätzlich keiner § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EGMK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist, da er selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (vgl. BayVGH, B. v. 25.01.2017 - 13a ZB 16.30374 -, juris Rn.12). Bei dem Kläger ist aber von besonderen in seiner Person liegenden Umständen auszugehen, weshalb in seinem Falle im Hinblick auf die zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. zur humanitären Lage in Afghanistan: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30.09.2016, S. 24 ff.; Pro Asyl: "Afghanistan: Kein sicheres Land für Flüchtlinge", August 2016, S. 25 ff.). Die Lebensbedingungen in Afghanistan sind landesweit schlecht. Das Risiko des Einzelnen, zu einem Opfer von Gewalt oder einer Menschenrechtsverletzung zu werden, ist überall - wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung - gegeben. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was im besonderen Maße für Rückkehrer gelte. Eine hohe Arbeitslosigkeit werde zudem verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Rund 36 % der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenquote sei im Oktober 2015 auf 40 % angestiegen. Die medizinische Versorgung leide trotz der erkennbaren und erheblichen Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht zu Afghanistan vom 19.10.2016, Stand: September 2016). Auch nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bleibt die Situation für Rückkehrende weiterhin schwierig. Der Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und anderen Dienstleistungen sei teilweise erschwert. Aufgrund der fehlenden Netzwerke sei es äußerst schwierig, eine Verdienstmöglichkeit und eine Unterkunft zu finden. Die Unterstützung durch Hilfswerke mit Nahrungsmitteln oder Bargeld habe eher symbolischen Wert. Während der afghanische Staat kaum in der Lage sei, die Rückkehrenden wirksam zu unterstützen, könnten auch die humanitären Organisationen aufgrund der zurückgehenden finanziellen Mittel diese Rolle immer weniger erfüllen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30.09.2016, S. 27 f.). Es ist deshalb zu befürchten, dass die beschriebene humanitäre Situation den Kläger im Falle einer Rückkehr in mehrfacher Hinsicht in einer Art. 3 EMRK entgegenstehenden Art und Weise trifft.
Dem Kläger fehlen in Afghanistan die für ein Überleben notwendigen verwandtschaftlichen Beziehungen. Er hat nach eigenem Bekunden keine unterstützungsbereite Familie in Afghanistan. Er hat angegeben, dass seine Eltern und einige ältere Geschwister weiterhin im Iran leben. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland Afghanistan komplett auf sich allein gestellt wäre. Verwandtschaftliche Beziehungen sind aber in einem Land, in dem alles in Familie, Clan und Stamm entschieden wird, wo die soziale Absicherung traditionell bei den Familien und Stammesverbänden liegt, insbesondere die Fürsprache eines Familien-, Stammes- oder Cianzugehörigen häufig eine wichtige Voraussetzung für die Vermittlung eines Arbeitsplatzes ist, von dringender Notwendigkeit, um ein entsprechendes Existenzminimum zu erwirtschaften (vgl. hierzu ausführlich: Nds.OVG, U. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 -, juris, m.w.N.). Der Kläger würde ohne familiären Rückhalt in der afghanischen Gesellschaft, in der er nie gelebt hat, kein Netzwerk und kein Existenzminimum aufbauen können. Ihm ist aufgrund seiner lebenslangen Abwesenheit sein Heimatland, d.h. die afghanische Kultur, aber auch die Menschen, fremd geworden. Er hat die Schule im Iran nur bis zur 6. Klasse besucht und verfügt damit weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung. Als alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher afghanischer Staatsangehöriger ohne Ausbildung, der nicht auf Hilfe von Verwandten oder Bekannten zurückgreifen kann, ist er in Afghanistan zum Scheitern verurteilt. Ohne Familienstruktur, auf die er sich verlassen kann, ist davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan nicht arbeits- und damit im Ergebnis nicht lebensfähig sein wird. All dies zu Grunde gelegt, ist bei ihm aufgrund der in seiner Person liegenden besonderen Umstände, insbesondere die mangelnde sozialen Verwurzelung in seinem Heimatland Afghanistan aufgrund langjähriger Abwesenheit, mangelnde unterstützungsbereite familiäre Strukturen und sonstige Netzwerke in Afghanistan sowie die schlechte bzw. sich weiter verschlechternde Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan (vgl. hierzu allgemein: Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan vom 19.10.2016, Stand: September 2016; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30.09.2016; Nds.OVG, U. v. 28.07.2014, aaO.; BayVGH, U. v. 21.11.2014, aaO.) zu erwarten, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Die humanitäre Lage dort lässt für ihn ein menschenwürdiges Dasein nicht zu. Aufgrund seiner individuellen Umstände ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er in auch im Großraum Kabul, in eine völlig aussichtslose Lage geraten und am Rande des Existenzminimums "dahinvegetieren" würde. Nach alledem ist unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides des Bundesamtes vom 04.09.2017 ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. [...]