VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 05.01.2018 - 5 A 179/17 MD - asyl.net: M25874
https://www.asyl.net/rsdb/M25874
Leitsatz:

Zuerkennung von subsidiärem Schutz aufgrund der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wegen außerehelicher Beziehung, da diese in Afghanistan sowohl nach dem Strafgesetz als auch gemäß der Scharia verboten sind. Interner Schutz steht dem Betroffenen (auch in Kabul) nicht zur Verfügung, da er sich dort nicht sicher vor seiner Familie verstecken könnte (insbesondere gibt es keine Schutzhäuser für Männer).

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, außereheliche Beziehung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, interne Fluchtalternative, subsidiärer Schutz, Folter, Zina, Scharia-Recht, Ehebruch,
Normen: AsylG § 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Es bestehen allerdings stichhaltige Gründe für die Annahme, dass ihm aufgrund seiner Beziehung zu seiner Stiefmutter in Afghanistan Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen der in 3c AsylG benannten Akteure droht. [...]

In Afghanistan sind außereheliche Beziehungen sowohl im Strafgesetz als auch gemäß der Scharia verboten. Ehebruch bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr, bezeichnet als Zina, stellt in der afghanischen Gesellschaft einen ernsten Verstoß gegen die islamische Moral dar und wird als Todsünde betrachtet. Er hat den Status eines Verbrechens und entehrt nicht nur die beiden Beteiligten, sondern deren gesamte Familien, insbesondere die Familie der Frau. Deshalb kann es auch zu Ehrenmorden an der Frau, wie auch am Mann kommen. In einigen Regionen kommt es zu Steinigungen. Insgesamt ist es für junge Männer gefährlich, außerhalb der Ehe sexuelle Beziehungen zu Frauen zu führen, erst recht, wenn die Frau aus einer einflussreichen Familie stammt (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse, Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr vom 02.10.2012, S. 1 f., abrufbar auf …). Zusätzlich zu der streng aufgefassten islamischen Moral stellt der paschtunische Ehrenkodex Pashtunwali, der noch älter als der Islam ist, unbeugsame Moral- und Ehrenregeln auf (Dr. Mostafa Danesch, Anfragebeantwortung vom 10.01.2013 zu den Folgen für einen unverheirateten Mann bei außerehelichem Geschlechtsverkehr mit einer verheirateten Frau). Neben dem staatlichen Justizsystem existieren traditionelle Rechtsmechanismen, bei denen lokale Persönlichkeiten in einberufenen Versammlungen Konflikte in der jeweiligen Gemeinschaft schlichten. Diese werden insbesondere in Familienangelegenheiten wie Zina aktiv. Gerade in ländlichen Gebieten wird auf solche traditionellen Schlichtungsmechanismen vertraut. Richter sind ungenügend ausgebildet und stützen ihre Urteile oft auf ihr persönliches Verständnis der Scharia, auf kodifiziertes Recht und lokale Traditionen. Außereheliche Beziehungen gelten bei allen ethnischen Gruppen als Vergehen und werden bestraft. Angehörige der paschtunischen Volksgruppe gehen bei der Bestrafung der Zina am restriktivsten vor. Die-meisten Fälle werden von lokalen "Shuras" und "Jirgas" behandelt. Auch wenn die Familien eine Einigung erzielen können, ist das Paar zusätzlich möglichen Sanktionen oder Strafaktionen seitens der erweiterten Gemeinschaft oder der lokalen Machthaber ausgesetzt (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 02.10.2012, a.a.O., S. 2 f.):

Gemäß der Scharia reicht die Bestrafung für Zina von Auspeitschungen bis hin zur Steinigung. Die erste nach dem-Fall der Taliban bekannt gewordene Bestrafungsaktion wegen Zina wurde im April 2005 von einer lokalen "Jirga" durchgeführt. Der Mann erhielt hundert Peitschenhiebe die Frau wurde gesteinigt. In vielen Fällen werden Auspeitschungen und Steinigungen nur aufgrund von Annahmen und Spekulationen, verhängt. Es gibt verschiedene Berichte zu Steinigungen von Paaren, die aufgrund von Zina verurteilt worden sind (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 02.10.2012 a.a.O., Dr. Danesh, Auskunft vom 10.01.2013, S. 3). Allerdings enden "Zina"-Verstöße, insbesondere in minderschweren Fällen, nicht zwangsläufig mit einer Steinigung oder sonstigen unmenschlichen Behandlung der Betroffenen. So nennt Dr. Danesh als Beispiel für einen minderschweren Fall in seiner Auskunft vom 10.01.2013 eine Situation, in der unverheiratete junge Leute außerehelichen Geschlechtsverkehr haben: Wenn sie in dieser Situation zu einer Heirat bereit sind, sei denkbar, dass sie mit einer Haftstrafe von einigen Monaten davonkämen. Dagegen seien die Fälle zu den besonders schweren Fällen zu zählen, in denen die Frau verheiratet war. Hier sei staatlicherseits mit der Höchststrafe von. ca. 15 Jahren Haft zu rechnen (Dr. Danesh, Auskunft vom 10.01.2013).

Der Kläger kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative i.S.v. §.4:Abs. 3 i.V.m. 3e AsylG verwiesen werden.

So führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe unter Bezugnahme auf weitere Quellen aus, dass Männern, welche die Ehre einer Familie verletzt haben, nur ihre eigene Familie Schutz vor der Familie der Frau bieten kann. Ein Mann sei auch in Kabul nicht sicher vor der Verfolgung der anderen Familie, da diese versuchen werde, ihn über ihr ethnisches Netzwerk zu finden. Auch wenn sie ihn nicht finden, werde es für den Mann schwierig, im Versteckten eine Arbeit zu verrichten und er werde immer in Angst leben, entdeckt zu werden. Es gebe keine Schutzhäuser für Männer, welche beschuldigt werden, die Ehre einer anderen Familie beschmutzt zu haben (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse vom.02.10.2012). Dr. Danesh führt hierneben aus, die Möglichkeit, staatlichen Schutz gegen solche Bedrohungen zu erlangen, bestehe nicht. Würde ein Mann bei den Behörden Schutz vor diesen Gefahren durch Dritte suchen, würde er wegen des ihm vorgeworfenen Vergehens verhaftet. Sein Leben wäre dann zwar einigermaßen geschützt, er würde dann aber vor Gericht gestellt und müsste mit einer hohen Haftstrafe rechnen. Laut dem Gesetzbuch von 1975 betrage die Verjährungsfrist für das Verbrechen Ehebruch/Zina für erwachsene Täter über 18 Jahre zehn Jahre, wohingegen nach der traditionellen, im "Paschtunwali" besonders streng ausgeprägten Auffassung Verbrechen gegen die-Ehre niemals verjähren würden. Damit existiere in der Praxis keine Verjährungsfrist, nach der die Familie der Ehefrau, regionale Machthaber oder radikale religiöse Kräfte aufhören würden, einen Mann wegen des Vorwurfs des Ehebruchs zu verfolgen. Diese Kräfte könnten sich über diese auf § 3 der heutigen Verfassung berufen, nach dem die religiösen Gesetze über den weltlichen stehen (Dr. Danesh, Auskunft vom 10.01 2013).

Für die Person des Klägers kann in Ansehung der durch seinen Vater erhobenen Vorwürfe sowie aufgrund des Umstandes seiner nicht ehelichen Geburt nicht davon ausgegangen werden, dass er Schutz von der in H. ansässigen Familie erhält. Darauf, ob in Afghanistan überhaupt eine zumutbare inländische Fluchtalternative besteht, kommt es in Ansehung der nach den obigen Ausführungen für ihn landesweit bestehenden Gefährdungslage folglich nicht an. [...]