Zuerkennung von subsidiärem Schutz wegen drohender Zwangsverheiratung und mangelndem internen Schutz in Afghanistan.
(Leitsatz der Redaktion)
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Unabhängig davon, ob es sich bei dem ... tatsächlich - wie von den Klägern aufgrund der von ihnen bei anderen Dorfbewohnern eingeholten Informationen ausgeführt - um einen Taliban-Kommandanten handelt, ist jedenfalls die Angst der Kläger vor einem kriminellen Eingriff in ihre Rechte auf Freiheit und Leben nachvollziehbar und insbesondere vor dem Hintergrund des erfolglosen Hilfsbegehrens bei den Dorfältesten und der Bezirksverwaltung plausibel. Es ist daher zur Überzeugung des Gerichts hinreichend wahrscheinlich, dass die Kläger im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit ihr Leben bedrohenden Racheaktionen des … rechnen müssten, vor denen sie weder die Dorfgemeinschaft noch die Bezirksverwaltung zu bewahren im Stande oder auch nur willens wären.
Das deckt sich mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen zur Lage in Afghanistan. Zwar gibt es seit 2009 in Afghanistan ein Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (Eliminating Violence against Women (EVAW)-Gesetz), das gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche einschließlich Kinderheirat und Zwangsheirat unter Strafe stellt. Doch wird es nicht vollständig durchgesetzt, insbesondere nicht in ländlichen Gebieten. Schädliche traditionelle Bräuche werden vielmehr in zahlreichen Fällen durch die afghanische nationale Polizei und die Staatsanwaltschaften gefördert (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 64 ff., insbesondere S. 67; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: September 2016, S. 14; EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan. Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017, S. 39 ff.).
Die Kläger haben überzeugend erklären können, warum sie die erst in der mündlichen Verhandlung vor Gericht ausgeführten konkreten Vorfälle nicht bereits in der Anhörung beim Bundesamt geschildert haben. Die von ihnen dargetane, aus der Berührung der Familienehre herrührende Scham ist hierfür eine nachvollziehbare Erklärung. Überdies haben der Kläger zu 1 und insbesondere die Klägerin zu 2 ihre Sorgen um ihre Kinder bereits in der Anhörung beim Bundesamt geäußert. Nur das jeweilige konkrete Geschehen haben sie erst in der mündlichen Verhandlung geschildert. Die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben wird dadurch nach Auffassung des Gerichts aber nicht erschüttert.
Das Gericht sieht auch keine Grundlage für die Annahme, dass die Kläger in Afghanistan, insbesondere in Kabul, internen Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3, § 3e AsyIG finden könnten. Den Klägern stand und steht in Afghanistan keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung, um bei einer Rückkehr einer Verfolgung durch ... als nichtstaatlichem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3, § 3c Nr. 3 AsylG auszuweichen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger andernorts in Afghanistan vor Nachstellungen durch ihn sicher wären. Insoweit kommt ihnen die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie hinsichtlich bereits erfolgter Verfolgungshandlungen zugute. Das Gericht ist dabei nach den Angaben der Kläger und insbesondere dem vom Moscheevorsteher auf Bitten des Klägers zu 1 verfassten Brief davon überzeugt, dass sich jedenfalls in einer Position befindet, die es ihm erlaubt, seinen vermeintlichen Eheanspruch bzw. sein Rachebedürfnis wegen der vermeintlichen Verletzung seiner Ehre auch über die Grenzen des Bezirks hinweg zu verfolgen.
Nach den Erkenntnissen des UNHCR ist zu bedenken, dass einige Befehlshaber und bewaffnete Gruppen als Urheber von Verfolgung sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene agieren. In einigen Fällen sind sie eng mit der örtlichen Verwaltung verbunden, während sie in anderen Fällen Verbindungen zu mächtigeren und einflussreichen Akteuren einschließlich auf der zentralen Ebene verfügen und von diesen geschützt werden. Der Staat ist hierbei nicht in der Lage, Schutz vor Gefahren, die von diesen Akteuren ausgehen, zu gewährleisten. Die Verbindungen zu anderen Akteuren kann - abhängig vom Einzelfall - eine Person einer Gefahr aussetzen, die über das Einflussgebiet eines lokalen Befehlshabers hinausgeht, einschließlich in Kabul. Sogar in einer Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt ist, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen, bleibt eine Verfolgungsgefahr bestehen, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen können (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 4; ausführlich dazu Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans, Asylmagazin 2017, 82, 88 f.; dies., Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017, 189, 195 f.). [...]