EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 25.01.2018 - C-473/16 F gg. Ungarn - Asylmagazin 5/2018, S. 167 ff. - asyl.net: M25902
https://www.asyl.net/rsdb/M25902
Leitsatz:

Zulässigkeit von psychologischen Tests und Gutachten zur Feststellung von Homosexualität im Asylverfahren:

1. Im Rahmen der Prüfung der Tatsachen und Umstände, die sich auf die behauptete sexuelle Orientierung einer asylsuchenden Person beziehen, ist es grundsätzlich mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar, psychologische Gutachten in Auftrag zu geben,

- soweit die Modalitäten eines solchen Gutachtens im Einklang mit den in der GR-Charta garantierten Grundrechten stehen,

- die Entscheidung nicht allein auf die Ergebnisse des Gutachtens gestützt ist,

- und darüber hinaus die Bewertung der Aussagen der antragstellenden Person zu ihrer sexuellen Orientierung nicht an diese Ergebnisse gebunden ist.

2. Zur Beurteilung der Frage, ob die behauptete sexuelle Orientierung einer asylsuchenden Person tatsächlich besteht, ist es mit Art. 7 GR-Charta nicht vereinbar, psychologische Gutachten zu erstellen und heranzuziehen, die auf der Grundlage eines projektiven Persönlichkeitstests die sexuelle Orientierung einer Person abbilden sollen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Sachverständigengutachten, homosexuell, psychologischer Test, Achtung des Privatlebens, Gruppenverfolgung, soziale Gruppe,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4, RL 2011/95/EU Art.10, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[...]

37 In dem speziellen Kontext der Würdigung der Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person zu ihrer sexuellen Orientierung lässt sich nicht ausschließen, dass sich bestimmte Arten von Gutachten als im Zuge der Prüfung der Tatsachen und Umstände nützlich erweisen und dass sie erstellt werden können, ohne die Grundrechte dieser Person zu beeinträchtigen.

38 So kann die Heranziehung eines Sachverständigen – wie die französische und die niederländische Regierung betonen – u. a. ermöglichen, dass vollständigere Informationen über die Lage von Personen, denen eine bestimmte sexuelle Orientierung gemein ist, in dem Drittland, aus dem der Antragsteller stammt, eingeholt werden.

39 Art. 10 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2013/32, der nach deren Art. 51 Abs. 1 bis zum 20. Juli 2015 umzusetzen war, sieht im Übrigen speziell vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, u. a. geschlechtsspezifischen Fragen – zu denen ausweislich des 30. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/95 insbesondere die geschlechtliche Identität und die sexuelle Orientierung gehören – den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist. [...]

41 Zum anderen ergibt sich aus Art. 4 dieser Richtlinie, dass die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz eine individuelle Antragsprüfung umfassen muss, bei der alle mit dem Herkunftsland des Antragstellers verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind. Gegebenenfalls muss die zuständige Behörde auch Erklärungen für das Fehlen von Beweisen und die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteile vom 26. Februar 2015, Shepherd, C-472/13, EU:C:2015:117, Rn. 26, und vom 9. Februar 2017, M, C-560/14, EU:C:2017:101, Rn. 36).

42 Daraus folgt, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung nicht allein auf die Ergebnisse eines Gutachtens stützen darf und bei der Würdigung der Aussagen eines Antragstellers zu seiner sexuellen Orientierung erst recht nicht an diese Ergebnisse gebunden sein kann. [...]

46 Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er der für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständigen Behörde oder den Gerichten, bei denen gegebenenfalls eine Klage gegen eine Entscheidung dieser Behörde anhängig ist, nicht untersagt, im Rahmen der Prüfung der Tatsachen und Umstände, die sich auf die behauptete sexuelle Orientierung eines Antragstellers beziehen, ein Gutachten in Auftrag zu geben, soweit die Modalitäten eines solchen Gutachtens in Einklang mit den in der Charta garantierten Grundrechten stehen, die Behörde und die Gerichte ihre Entscheidung nicht allein auf die Ergebnisse des Gutachtens stützen und sie bei der Bewertung der Aussagen des Antragstellers zu seiner sexuellen Orientierung nicht an diese Ergebnisse gebunden sind. [...]

49 Zu den Grundrechten, denen im Rahmen der Bewertung der Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person zu ihrer sexuellen Orientierung spezielle Bedeutung zukommt, gehört insbesondere das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a., C-148/13 bis C-150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 64). [...]

51 Insoweit ist festzustellen, dass ein psychologisches Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige von der Asylbehörde im Rahmen des Verfahrens angeordnet wird, in dem der von der betroffenen Person gestellte Antrag auf internationalen Schutz geprüft wird.

52 Demzufolge wird dieses Gutachten in einem Kontext erstellt, in dem sich die Person, die sich projek - tiven Persönlichkeitstests unterziehen soll, in einer Situation befindet, in der ihre Zukunft eng mit der Entscheidung verknüpft ist, die die Asylbehörde über ihren Antrag auf internationalen Schutz trifft, und eine etwaige Weigerung, sich diesen Tests zu unterziehen, möglicherweise einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt, auf den sich die Asylbehörde bei ihrer Prüfung, ob diese Person ihren Antrag ausreichend begründet hat, stützen wird.

53 Daher ist selbst in dem Fall, dass die Durchführung psychologischer Tests, auf denen ein Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige beruht, formal voraussetzt, dass die betroffene Person ihre Einwilligung gibt, davon auszugehen, dass diese Einwilligung nicht zwangsläufig aus freien Stücken erfolgt, da sie de facto unter dem Druck der Umstände verlangt wird, in denen sich um internationalen Schutz nachsuchende Personen befinden (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a., C-148/13 bis C-150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 66).

54 Deshalb ist – wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Erstellung und Verwendung eines psychologischen Gutachtens wie des im Ausgangsverfahren streitigen ein Eingriff in das Recht des Betroffenen auf Achtung seines Privatlebens. [...]

57 In diesem Zusammenhang kann ein Eingriff in das Privatleben eines Antragstellers zwar durch die Suche nach Anhaltspunkten gerechtfertigt sein, die eine Einschätzung ermöglichen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedarf; es ist jedoch Sache der Asylbehörde, unter gerichtlicher Kontrolle zu beurteilen, ob ein psychologisches Gutachten, das sie anzufordern beabsichtigt oder berücksichtigen möchte, im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist.

58 Insoweit ist hervorzuheben, dass ein Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige nur dann als geeignet erachtet werden kann, wenn es sich auf Methoden und Grundsätze stützt, die nach den von der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft anerkannten Normen als hinreichend zuverlässig gelten. Zwar ist es nicht Sache des Gerichtshofs, hierüber zu befinden, weil dies als Tatsachenwürdigung in die Zuständigkeit des nationalen Richters fällt, doch ist die Zuverlässigkeit eines solchen Gutachtens von der französischen und der niederländischen Regierung sowie von der Kommission stark in Zweifel gezogen worden.

59 Jedenfalls stehen die Auswirkungen eines Gutachtens wie des im Ausgangsverfahren streitigen auf das Privatleben des Antragstellers in einem Missverhältnis zu dem angestrebten Zweck, da die Schwere des Eingriffs in das Privatleben, den es darstellt, im Vergleich zu dem Nutzen, den es möglicherweise für die in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Prüfung der Tatsachen und Umstände haben könnte, nicht als verhältnismäßig angesehen werden kann.

60 Erstens ist nämlich der Eingriff in das Privatleben der um internationalen Schutz nachsuchenden Person, der in der Erstellung und Verwendung eines Gutachtens wie des im Ausgangsverfahren streitigen besteht, in Anbetracht seiner Art und seines Gegenstands von besonderer Schwere.

61 Denn ein solches Gutachten beruht u.a. darauf, dass der Betroffene einer Reihe von Tests unterzogen wird, die einen wesentlichen Bestandteil seiner Identität feststellen sollen und seine persönliche Sphäre berühren, da es um intime Aspekte seines Lebens geht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. November 2013, X u. a., C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 46, sowie vom 2. Dezember 2014, A u. a., C-148/13 bis C-150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 52 und 69).

62 Bei der Beurteilung der Schwere des Eingriffs, den die Erstellung und Verwendung eines psychologischen Gutachtens wie des im Ausgangsverfahren streitigen darstellt, ist auch Prinzip 18 der Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung internationaler Menschenrechtsnormen und -standards in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu berücksichtigen, auf das die französische und die niederländische Regierung verwiesen haben. Dort heißt es u.a., dass niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder seiner geschlechtlichen Identität gezwungen werden darf, sich irgendeiner Form psychologischer Untersuchung zu unterziehen.

63 Eine Gesamtschau dieser Gesichtspunkte ergibt, dass die Schwere des Eingriffs in das Privatleben, den die Erstellung und Verwendung eines Gutachtens wie des im Ausgangsverfahren streitigen darstellt, über das hinausgeht, was mit der Würdigung der Aussagen der um internationalen Schutz nachsuchenden Person zur Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder der Heranziehung eines psychologischen Gutachtens mit einem anderen Gegenstand als der Feststellung der sexuellen Orientierung dieser Person notwendigerweise verbunden ist.

64 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass ein Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige im Zusammenhang mit der in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Prüfung der Tatsachen und Umstände steht.

65 In diesem Kontext kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein solches Gutachten unverzichtbar ist, um die Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person zu ihrer sexuellen Orientierung bestätigen und damit über einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit der Furcht vor Verfolgung wegen dieser Orientierung begründet wird, befinden zu können.

66 Denn zum einen ist die Durchführung einer persönlichen Anhörung durch das Personal der Asylbehörde geeignet, zur Würdigung dieser Aussagen beizutragen, da sowohl Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 als auch Art. 15 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vorsehen, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen und allgemeinen Umstände des Antrags zu berücksichtigen, was u.a. die sexuelle Orientierung des Antragstellers einschließt.

67 Ganz allgemein ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die Asylbehörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben angemessen ausgestattet ist und über kompetentes Personal in ausreichender Zahl verfügt. Infolgedessen muss das Personal dieser Behörde über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen, um Anträge auf internationalen Schutz, die mit Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung begründet werden, beurteilen zu können.

68 Zum anderen geht aus Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 hervor, dass, wenn die Mitgliedstaaten den Grundsatz anwenden, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, dessen Aussagen, für die Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, keines Nachweises bedürfen, wenn die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen erfüllt sind, die insbesondere auf die Kohärenz und die Plausibilität dieser Aussagen abstellen und in keiner Weise auf die Erstellung oder Verwendung eines Gutachtens Bezug nehmen.

69 Selbst wenn ein auf projektive Persönlichkeitstests gestütztes Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige dazu beitragen könnte, mit einiger Zuverlässigkeit die sexuelle Orientierung zu bestimmen, ergibt sich im Übrigen aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass die Ergebnisse eines solchen Gutachtens lediglich geeignet sind, ein Abbild dieser sexuellen Orientierung zu liefern. Diese Ergebnisse vermitteln somit allenfalls ein ungefähres Bild und sind daher für die Beurteilung der Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person nur von begrenztem Interesse, insbesondere wenn diese Aussagen wie im Ausgangsverfahren keine Widersprüche aufweisen. [...]