Auch im Falle eines langjährigen Aufenthalts im benachbarten Ausland Afghanistans (hier: im Iran) besteht für einen leistungsfähigen, erwachsenen, afghanischen Mann ohne Unterhaltsverpflichtung, der keine familiären oder sozialen Unterstützungsnetzwerke hat, im Allgemeinen - wenn nicht besondere, individuell erschwerende Umstände hinzukommen - in Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, trotz der schlechten humanitären Bedingungen und Sicherheitslage keine Gefahrenlage, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und infolgedessen zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt (im Anschluss an VGH Bad.-Württ., Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -).
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor. [...]
ff) Weiteren Herausforderungen sehen sich Rückkehrer mit afghanischer Staatsangehörigkeit gegenüber, die vor ihrem Aufbruch nach Europa lange Zeit im benachbarten Ausland Afghanistans - nämlich typischerweise im Iran - gelebt haben oder sogar dort geboren sind.
Die Gruppe afghanischer Staatsangehöriger, die (oft langjährig oder schon immer) im Iran leben oder gelebt haben, ist groß. So lebten im Jahr 2015 etwa 950.000 registrierte und mit dem Flüchtlingsstatus ausgestattete Personen im Iran. Etwa zwei Millionen weitere afghanische Staatsangehörige hielten sich illegal im Land auf (BAMF, Die Situation afghanischer Flüchtlinge im Iran, Pakistan und Türkei - Auswirkungen auf die Migration in Richtung Europa, 22.12.2015, S. 4 m.w.N.).
Eine große Anzahl von afghanischen Staatsangehörigen mit langem Aufenthalt im Iran haben in jüngerer Zeit den Iran verlassen. Hintergrund ist dabei u.a., dass der Iran auf deren Ausreise dringt. So hatte das iranische Kabinett bereits im Jahr 2012 angekündigt, bis Ende des Jahres 2015 alle illegal im Land lebenden Personen auszuweisen. In der Folge kam es dann auch zu erzwungenen Rückführungen (beispielsweise im ersten Halbjahr 2014 104.256 und im ersten Halbjahr 2015 105.304) (vgl. zu dieser Problematik etwa Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 20; Koehler, InfAuslR 2017, 99 (99 und 102); BAMF, Die Situation afghanischer Flüchtlinge im Iran, Pakistan und Türkei - Auswirkungen auf die Migration in Richtung Europa, 22.12.2015, S. 5 f. m.w.N.).
Für Afghanen, die lange im Iran gelebt haben, die dort in jungen Jahren an gekommen oder die dort geboren sind, wird berichtet, dass diese nach einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund der Prägung durch die Kultur Irans mit den lokalen Gepflogenheiten nicht vertraut waren und als "fremd" betrachtet wurden, zumal die eher heterogene, sunnitisch geprägte afghanische Kultur mit der eher konservativen schiitischen Kultur im Iran nicht zu vergleichen sei. Insbesondere wenn sie wegen des in der Vergangenheit gesprochenen iranischen Farsi (und nicht des eng verwandten, westafghanischen Dari) einen als fremd empfundenen Akzent aufgewiesen hatten und deswegen unmittelbar als anders erkannt worden waren, sahen sie sich bei der Arbeits- und Wohnungssuche erheblichen Hürden gegenüber. Insbesondere Flüchtlinge zweiter Generation sehen sich dem Vorwurf gegenüber, sie seien "verwöhnt, Nichtstuer, nicht afghanisch", da sie auf Grund ihrer Integration in die iranischen Verhältnisse nicht wissen, was in Afghanistan "normal" ist. Es gibt eine generell negative Einstellung gegenüber einigen Rückkehrern, denen vorgeworfen wird, ihr Land im Stich gelassen zu haben (Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 103; dazu auch Koehler, InfAuslR 2017, 99 (99); Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 5 zur Sprachproblematik (vgl. im Übrigen auch zur Darstellung S. 4 folgenden zu den weiteren - vorstehend schon allgemein dargestellten Problemen wie die Erforderlichkeit von Netzwerken); Koehler, InfAuslR 2017, 99 (105) zur Problematik der unterschiedlichen Kulturen im Iran und in Afghanistan. Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, 12.06.2015, S. 4 ff., dort auch zur "Neidproblematik", weil qualifizierte Rückkehrer aus dem Iran bessere Jobs bei Hilfsorganisationen erhielten).
Haben die Rückkehrer mit langjährigem Aufenthalt im Iran keine familiären Bindungen mehr, weil die übrige Familie selbst geflohen oder ausgereist ist oder es wegen der langen Abwesenheit keinen Kontakt mehr gab und gibt, sehen sie sich oft der bereits allgemein geschilderten Problematik gegenüber, dass in Afghanistan in sämtlichen Lebensbereichen Netzwerke erforderlich sind, ohne die eine "Wiedereingliederung" in die afghanische Gesellschaft jedenfalls erheblich erschwert ist (Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, 12.06.2015, S. 1 f.). [...]
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt. [...]
Gleiches gilt auch für die Gruppe derjenigen, die - wie der Kläger - seit langem nicht mehr (oder sogar nie) in Afghanistan gelebt haben, sondern einen beträchtlichen Teil des Lebens im Iran verbracht haben (teils unter dem Begriff der sog. "faktischen Iraner" zusammengefasst). Trotz bestehender Unterschiede zwischen den Verhältnissen im Iran und in Afghanistan ist nicht ersichtlich, dass es einem im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen grundsätzlich nicht o-der sehr viel schwerer als anderen Rückkehrern ohne Netzwerke möglich wäre, in Afghanistan sein Überleben zu sichern. Auch wenn sich das Leben vom zwar auch islamisch geprägten Kulturkreis des Iran in vielerlei Hinsicht unterscheidet (insbesondere in der Sicherheitslage, aber auch was die aus afghanischer Sicht freizügigere Lebensweise im Iran betrifft, s.o.), ist insbesondere auch den genannten Stellungnahmen des UNHCR vom April 2015 und vom Dezember 2016 nicht zu entnehmen, dass "faktischen Iranern" in Afghanistan die Sicherung des Existenzminimums typischerweise unmöglich wäre. Jedenfalls in den größeren Städten wie Kabul ist - wenn nicht individuelle, erschwerende Umstände hinzukommen - davon auszugehen, dass ein leistungsfähiger erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen seine Existenz auch dann sichern kann, wenn er mit auf Grund eines langjährigen Aufenthalts im benachbarten Ausland nicht mit den besonderen Verhältnissen Afghanistans vertraut ist (so im Übrigen (zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG) auch BayVGH, Beschlüsse vom 12.04.2017 – 13a ZB 17.30230 -; vom 21.03.2017 - 13a ZB 1740155 -; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 sowie vom 20.12.2016 - 13 a ZB 16.129 -; NdsOVG, Beschluss vom 27.04.2016 - 9 LA 46/16 -; BayVGH, Urteil vom 12.02.2015 - 13a B 14.30309 -, alle nach juris; zur Konstellation eines Ausnahmefalls vgl. etwa VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 10.01.2017 – 10 A 6516/16 -, juris Rn. 24). [...]