VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Beschluss vom 01.02.2018 - B 6 E 17.1014 - asyl.net: M25929
https://www.asyl.net/rsdb/M25929
Leitsatz:

Kann die Ausländerbehörde die Ausreisepflicht nicht zwangsweise durchsetzen, ist eine Duldung zu erteilen, auch wenn der Ausreisepflichtige die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung selbst zu vertreten hat. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, tatsächliche Unmöglichkeit, Abschiebung, Freiwilligkeitserklärung, Passbeschaffung, Duldungsbescheinigung, Ausreisepflicht,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 4,
Auszüge:

[...]

"Für die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2, 2. Alternative AuslG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer es zu vertreten hat, daß er wegen seiner ungeklärten Identität nicht abgeschoben werden kann. Die Vorschrift stellt nach ihrem Wortlaut nur darauf ab, ob die Abschiebung des Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Weder die Funktion der Duldung noch die gesetzliche Systematik spricht dafür, daß die Erteilung einer Duldung von weiteren Voraussetzungen, insbesondere von Umständen abhängen soll, die in der Sphäre des Ausländers liegen. Auch den Gesetzesmaterialien lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen. Maßgeblich ist allein, ob der Abschiebung tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer Abschiebeverpflichtung nachzukommen (vgl. hierzu und zum folgenden Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 - BVerwGE 105, 232 <234 ff.>). Wie in dem genannten Urteil im einzelnen ausgeführt wird, läßt die Systematik des Ausländergesetzes grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne daß die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor." (BVerwG, Urteil vom 21.03.2000 - 1 C 23.99, Rn. 12 und 13, juris).

"Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann eine Abschiebung des Ausländers durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Schon dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung geführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, ist - unabhängig von einem Antrag des Ausländers - als "gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis" eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwGE 105, 232 <235 f., 236>). Damit verträgt es sich entgegen der Ansicht des Bayerischen Staatsministeriums des Innern nicht, der Ausländerbehörde unter Bezugnahme auf § 57 Abs. 3 AuslG regelmäßig sechs Monate Zeit zu geben, um die Voraussetzungen für eine Abschiebung zu schaffen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt - wie das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich festhält - grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt (vgl. BVerwGE 105, 232 <236>), der den Zeitpunkt der Duldungserteilung - wie der zu Grunde liegende Fall zeigt, in dem die Ausländerbehörden den Sechs- Monats-Zeitraum sogar überschritten und eine Duldung erst nach fast neun Monaten erteilt haben - ins Belieben der Behörden stellt. Da der Ausländer auch zu dulden ist, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat (vgl. BVerwGE 111, 62 <64 f.>), ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte." (BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.03.2003 - 2 BvR 397/02, Rn. 37 und 38, juris).

Unter Verweis auf diese Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, dass auch das Aufenthaltsgesetz eine stillschweigende - "faktische" - Aussetzung der Abschiebung anstelle der förmlichen Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG (zum Schriftformerfordernis siehe § 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) nicht vorsieht (BVerwG, Urteil vom 25.03.2014 - 5 C 13.13, Rn. 20, juris).

Dementsprechend ist auch nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs "eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, aber nicht ohne (größere) Verzögerung durchgesetzt wenden kann, insbesondere der Abschiebetermin noch nicht feststeht (BVerwG, U.v. 21.3.2000 - 1 C 23.99 - juris; U.v. 25.9.1997 - 1 C 3.97 - juris). Die Ausländerbehörde hat insofern nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt erfolgen kann, sondern auch innerhalb welchen Zeitraums diese zu erwarten ist. Ist die Abschiebung nicht alsbald möglich, der Zeitraum vielmehr ungewiss, ist eine Duldung zu erteilen." (BayVGH, Beschluss vom 04.01.2016 -10 C 15.2105, Rn. 22; juris). [...]