Flüchtlingsanerkennung für eine unverheiratete Chinesin, die ein Kind hat und Zwillinge erwartet:
1. Bei Rückkehr nach China drohen staatliche Maßnahmen der Geburtenkontrolle wegen wegen Verstoßes gegen die Ein-Kind Politik.
2. Unverheiratete Mütter können sich nicht auf Ausnahmen von der Ein-Kind-Politik berufen. Einer unverheirateten Mutter von drei Kindern droht die ernste Gefahr, sich einer Zwangssterilisierung unterziehen zu müssen. Bei bestehender Schwangerschaft droht Zwangsabtreibung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Offen bleiben kann dabei, ob die Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Ausreise einer anlassbezogenen Einzelverfolgung ausgesetzt gewesen ist, was zur Folge hätte, dass ihr die Beweiserleichterung aus Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugutekäme. Denn unabhängig hiervon droht ihr bei ihrer Rückkehr nach China zur Überzeugung des Einzelrichters eine staatliche Verfolgung, da sie unverheiratet und Mutter eines in Deutschland geborenen Sohnes sowie mit Zwillingen schwanger ist.
Nach § 28 Abs. 1a AsylG und Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL) ist eine Flüchtlingsanerkennung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die begründete Furcht vor Verfolgung - wie hier - auf Ereignissen beruht, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat.
Der Einzelrichter geht zunächst von den Tatsachenfeststellungen aus, die der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 14. September 2016 - A 11 S 1125/16 -, juris auch unter Verweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16. Juli 2015 - A 6 K 786/14 - getroffen hat: [...]
Die überzeugenden Ausführungen sowohl des Verwaltungsgerichts Freiburg als auch des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, denen sich der Einzelrichter anschließt, haben auch unter Berücksichtigung neuester Erkenntnismittel weiterhin Geltung. Staatliche Quellen bestätigen dies. Insbesondere kommt es zu Zwangsabtreibungen und - sofern Eltern bereits zwei Kinder hatten - zu Zwangssterilisierungen. [...] Auch bei Schwangerschaften unverheirateter Frauen drängen Behörden auf eine freiwillige Abtreibung, insbesondere auch in der Provinz Liaoning (US Department of State, Human Rights Report 2016 vom 03.03.2017, S. 54 bis 56).
Nach Ansicht des Einzelrichters besteht für die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach China eine sehr hohe - beachtliche - Wahrscheinlichkeit, Ziel staatlicher Maßnahmen der Geburtenkontrolle zu werden. Die Klägerin stammt aus der Provinz Liaoning und hat bereits ein mit einem … Asylbewerber gezeugtes Kind und ist mit Zwillingen - vom selben Vater - schwanger, erwartet also ihr zweites und drittes Kind. Da sie unverheiratet ist, fällt sie nicht unter die oben genannten Ausnahmekonstellationen, in der es ihr möglich wäre, ein drittes Kind legal und in Übereinstimmung mit den chinesischen Gesetzen über die Familienplanung zur Welt zu bringen. Während der aktuell bestehenden Schwangerschaft droht der Klägerin nach den vorstehenden Tatsachenfeststellungen mit einem Schwangerschaftsabbruch eine Handlung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpft, § 3a Abs. 2 Nummer 3 Alt. 1 AsylG. Nach Geburt der Zwillinge besteht eine ernste Gefahr, dass sich die Klägerin als dreifache unverheiratete Mutter einer Zwangssterilisation unterziehen muss. Auch dies ist als eine an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfende Handlung zu qualifizieren. Selbst wenn die Klägerin theoretisch eine körperliche Zwangsmaßnahme durch Zahlung eines Bußgelds abwenden könnte, läge hierin eine diskriminierende gesetzliche bzw. administrative Maßnahme im Sinne von § 3a Abs. 2 Nummer 2 AsylG, da sie das Bußgeld allein aufgrund ihres familiären Status als unverheiratete Mutter dreier Kinder zahlen müsste. Nach Überzeugung des Einzelrichters ist überdies nicht zu erwarten, dass die Klägerin ein zu erwartendes Bußgeld bezahlen könnte. Dies hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht.
Die Klägerin ist den beschriebenen Verfolgungshandlungen zudem als Mitglied der sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nummer 4 AsylG) schwangerer unverheirateter Mütter mit drei Kindern oder mehr ausgesetzt. Insoweit schließt sich das Gericht den bereits dargestellten und überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Freiburg und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg an. Die zeitlich nachfolgenden Entscheidungen anderer Gerichte (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 7. November 2016 - 15 ZB 16.30425 -, juris Rn. 6 ff.; VG Leipzig, Urteil vom 29. April 2016 - 4 K 228/13.A -, juris; VG Kassel, Urteil vom 20. Januar 2016 -- 5 K 1167/13.KS.A -, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. Januar 2016 - 2a K 4280/14.A --, juris) vermögen an dieser Einschätzung nichts zu ändern, da in diesen eine substantiierte Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Freiburg und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg nicht stattfindet.
Die Klägerin kann auch nicht auf internen Schutz (§ 3e AsylG) verwiesen werden, da ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 15.12.2016 (dort Seite 24) für aus politischen Gründen Verfolgte keine Ausweichmöglichkeiten bestehen. Zudem ist ein offizieller Umzug in einen anderen Landesteil nur schwer möglich (a.a.O.). Dies gilt insbesondere im Falle der hier vorliegenden vom Staat ausgehenden (§ 3c Nummer 1 AsylG) Verfolgung. [...]