Verweigerung der Selbstgestellung führt nicht zur Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist:
1. Abänderungsbeschluss nach § 80 Abs. 7 VwGO: Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid nach Ablauf der Überstellungsfrist.
2. Die Überstellungsfrist verlängert sich nicht, wenn eine Aufforderung zur Selbstgestellung für die Dublin-Überstellung nicht befolgt wird.
3. Die in Berlin praktizierte Selbstgestellung zur begleiteten Ausreise ist im Unionsrecht nicht vorgesehen. Wenn Betroffene die Aufforderung zur Selbstgestellung nicht befolgen verhalten sie sich nicht rechtswidrig (unter Bezug auf VG Berlin, Urteil vom 8.12.2017 - 22 K 354.16 A).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
In dem hier zur Entscheidung stehenden Fall überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, da im entscheidungserheblichen Zeitpunkt erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG bestehen (zum Maßstab siehe den Rechtsgedanken des § 36 Abs. 4 AsylG). Eine endgültige Klärung bleibt dem Klageverfahren vorbehalten und erfordert ggfls. eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof. [...]
Das Bundesamt hat bei Erlass des Bescheides zu Recht seine Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens abgelehnt und die Zuständigkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft angenommen sowie das Vorliegen von Abschiebungshindernissen verneint (siehe Beschluss der vormals zuständigen 34. Kammer vom 27. März 2017 – VG 34 L 906.16 A –). [...]
In der Zwischenzeit ist jedoch Ende September / Anfang Oktober 2017 die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO abgelaufen. Eine Verlängerung kommt nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO nur dann in Betracht, wenn der Antragsteller "flüchtig" gewesen ist.
10 Dies ist vorliegend zumindest im erheblichen Maße zweifelhaft.
11 Zwar ist der Anwendungsbereich des Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO nicht auf Fälle des "auf der Flucht sein" beschränkt, wie der deutsche Wortlaut der Norm nahelegen könnte. Der Blick auf die anderen – ebenso maßgeblichen – Sprachversionen zeigt vielmehr, dass der Tatbestand auch erfüllt ist, wenn sich der Antragsteller aktiv (beispielsweise durch Flucht) einer Pflicht entzieht. So bedeutet die englische Fassung ("absconds") sowohl "flüchten" als auch "sich den Gesetzen entziehen" (Langenscheidt Universal-Wörterbuch Englisch-Deutsch, 2017); dies gilt insbesondere für den juristischen Sprachgebrauch (siehe VG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2010 – VG 33 L 182.10 A –, S. 6). Demgegenüber betonen beispielsweise die französische, italienische, niederländische und spanische Version – ähnlich wie die deutsche Fassung – stärker den Aspekt der Flucht und des Untertauchens ("prend la fuite", "sia fuggito", "onderduikt", "en caso de fuga"). Die rumänische Fassung ("sustrage proceduri") beschränkt sich wiederum auf die zweite Bedeutung des Entziehens einer gesetzlichen Pflicht und lässt sich mit "dem Verfahren" "entziehen" übersetzen (Langenscheidt Universal-Wörterbuch Rumänisch-Deutsch, 2017).
12 Ob ein danach erforderlicher Pflichtenverstoß vorliegt, erscheint aber zumindest im erheblichen Maße zweifelhaft. [...]
13 [...] Dass der Antragsteller nur für eine unerheblich kurze Zeit oder unverschuldet unangemeldet unauffindbar ist (etwa für einen Arztbesuch oder zum Erhalt eines Behandlungsscheins), reicht ohne Hinzutreten weiterer Umstände für die Annahme eines Pflichtverstoßes nicht aus (siehe m.w.N. VG Aachen, Beschluss vom 21. November 2017 – 6 L 1601.17.A –, juris, Rn. 9f.).
14 Zur Frage, ob in der Nichtbefolgung einer Aufforderung zur Selbstgestellung, ein zur Fristverlängerung führender Pflichtverstoß liegt, hat die 22. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin mit Urteil vom 8. Dezember 2017 (– VG 22 K 354.16 A –), mit dem die Sprungrevision zugelassen wurde, ausgeführt (S. 7f.):
15 "Gegenüber dem Kläger war die Abschiebung im Bescheid vom 27. September 2016 angeordnet worden. Dies bedeutet die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht. Darin steckt keine Aufforderung zur Freiwilligkeit wie bei einer Abschiebungsandrohung. Für die Aufforderung zur Selbstgestellung gibt es keine Rechtsgrundlage. Diese Aufforderung mag zwar als milderes Mittel angesehen werden. Doch wenn der Betreffende dem nicht Folge leistet, verhält er sich nicht rechtswidrig. Andernfalls könnte auch als „flüchtig“ angesehen werden, wenn ein Betreffender nicht freiwillig ausreist, wozu er mangels Aufenthaltsrechts verpflichtet ist.
16 Der Kläger entzog sich nicht vorwerfbar der Vollstreckung seiner Ausreisepflicht, indem er sich nicht freiwillig auf die Polizeiwache begab, von wo aus er dann zum Flughafen gebracht werden soll. Zwar verhinderte er dadurch konkret die Überstellung, das erfüllt aber das Merkmal "flüchtig ist" in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO wie ausgeführt nicht. Die Sanktion der Zuständigkeit für das Asylverfahren trifft die Bundesrepublik Deutschland nicht wegen eines dem Kläger vorwerfbaren Verhaltens, sondern deshalb, weil die Ausländerbehörde und das Bundesamt es vorher versäumt hatten, sich des Klägers rechtzeitig zu bemächtigen und die Überstellung durchzuführen. Dazu bestand nach dem 24. Januar 2017 sechs Monate lang Gelegenheit. Es wurde aber erstmals für den 22. Juni 2017, also fast fünf Monate später, eine Direktüberstellung vorgesehen."
17 Ergänzend sei noch ausgeführt, dass das Unionsrecht die in Berlin praktizierte Form der Selbstgestellung zur begleiteten Ausreise nicht kennt (siehe die Modalitäten der Überstellung in Art. 7 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 119/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 – Dublin-Durchführungs-VO). Zur Überstellung in der Form der selbstorganisierten Ausreise (Art. 7 Abs. 1 lit. a] Dublin-Durchführungs-VO) hat das Bundesverwaltungsgericht betont, dass diese Art der Ausreise nur auf Initiative bzw. Antrag des Schutzsuchenden erfolgt (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 16/14 –, Rn. 24 f., BVerwGE 153, 24), also gerade keine entsprechende Pflicht besteht.
18 Die noch unter Geltung der Dublin-II-VO ergangenen Entscheidungen, die unter Hinweis auf den Zweck der Überstellungsfrist, dem unzuständigen Mitgliedstaat einen Zeitraum von sechs Monaten zur Überstellung zu geben, weitgehend von einer Flüchtigkeit in der o.g. Konstellation ausgehen (VG Berlin, Beschlüsse vom 5. Mai 2014 – VG 9 L 101.14 A –, S. 6; vom 30. Dezember 2013 – VG 33 L 557.13 A –, S. 4-5; vom 6. Dezember 2013 – VG 23 L 400.13 A –, S. 3; vom 5. Juni 2013 – VG 21 L 151.13 A –, juris, Rn. 13; und vom 13. Januar 2011 – VG 33 L 530.10 A –, juris, Rn. 22; a.A. Beschluss vom 14. Dezember 2009 – VG 33 L 260.09 –, juris, Rn. 4), sind nicht auf die Rechtslage nach der Dublin-III-VO übertragbar. Unter Geltung der Dublin-III-VO ist nämlich anerkannt, dass die Fristen nicht nur die Zuständigkeit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten regeln, sondern ihnen auch drittschützende Funktion zukommt (siehe BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 – BVerwGE 1 C 6.16 –, Rn. 22, NVwZ 2016, 1492 in Umsetzung der Urteile des EuGH vom 7. Juni 2016 – C-63/15 [Ghezelbash] – und – C-155/15 [Karim] –; sowie EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 – C-201/16 [Shiri] –; alle juris). [...]