Irak: Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen/Möglichkeit der Existenzsicherung für alleinerziehende Frau mit Kindern:
Abschiebungsverbot für einen Iraker wegen psychischer Erkrankungen, die im Irak nicht behandelbar wären, und seine Ehefrau und Kinder, weil alleinerziehende Frauen mit mehreren Kindern im Irak keine Existenzgrundlage finden können.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach diesen rechtlichen Vorgaben liegt im Fall des Klägers zu 1.) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Denn in seinem Fall besteht die konkrete Gefahr, dass sich seine psychische Krankheit in seinem Heimatland verschlechtert, weil die Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind und ihm im Falle der Abschiebung eine konkrete Lebensgefahr droht. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts nach den im Tatbestand zitierten ärztlichen Attesten fest.
Das Attest vom … 2017 ist alleine ebenso aussagekräftig wie dasjenige vom … 2017. Allerdings findet sich in ihnen die Diagnose einer PTBS und einer rezidivierenden Depression. Begnügt sich das Attest vom 2017 mit dieser Diagnose, wird sie mit dem Attest vom 2017 wie folgt unterfüttert. Der Kläger zu 1.) leide mittlerweile an akustischen Halluzinationen im Sinne von Stimmenhören. Wenn er alleine sei, habe er das Gefühl, dass ein Mann hinter ihm sei. Es habe ein hoher Leidensdruck bestanden und der Kläger zu 1.) sei vom Funktionsniveau deutlich beeinträchtigt gewesen. Der Kläger zu 1.) erhalte deswegen Medikamente. Um eine weitere Exazerbation der o.g. Grunderkrankungen zu vermeiden beziehungsweise dem entgegenzuwirken, sei die aktuelle medikamentöse Behandlung indiziert und eine Psychotherapie im Sinne einer Traumatherapie / Verhaltenstherapie indiziert, die aktuell wegen der Sprachbarriere erschwert sei. Bei einem Wegfall der Behandlung drohe eine weitere Verschlechterung und Exazerbation der Grunderkrankung mit u.a. bis hin zur akuten Suizidalität und Verschlechterung der psychotischen Symptome und Rückfall in den schädlichen Alkohol- und Cannabisgebrauch, dem der Kläger zu 1.) unterliegt. In dem ärztlichen Attest vom 11. Dezember 2017 weist der behandelnde Arzt darauf hin, dass der Kläger zu 1.) erstmalig am 13. Juni 2017 in der Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie vorstellig gewesen ist. In der damaligen Episode habe er geschildert, dass er seit sieben Monaten an einer Trauer, Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit, Schuldgefühlen, Selbstwertproblemen, Schlafstörungen, Appetitverminderung mit einer Gewichtsabnahme von 6 kg in sieben Monaten davor sowie Konzentrationsstörungen leide. Bereits in der Vergangenheit habe er eine solche Episode gehabt. Er habe davon berichtet, in seinem Herkunftsland in der Nähe eines Bombenangriffs gewesen zu sein und in der Vergangenheit von Sicherheitskräften zusammengeschlagen worden zu sein. In diesem Rahmen habe er innerhalb der ersten sechs Monate nach den genannten Vorfällen eine erhöhte Schreckhaftigkeit, ein Vermeidungsverhalten [von] Dingen, die ihn an das Ereignis erinnern, Alpträume, Angstzustände mit Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Atemnot und Schwindel entwickelt, die teilweise täglich bestehen würden. Des Weiteren würden täglich bestehende unspezifische Verfolgungsängste bestehen, dass die Polizei sein Telefon abhören könnte. Zeitweise hätten auch lebensmüde Gedanken bestanden ohne konkrete Pläne. In der Zusammenschau der Befunde seien die geschilderten Symptome und die erzielten Berichte, die zu den genannten Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung sowie schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen im Rahmen von rezidivierenden Depressionen geführt hätten, nachzuvollziehen und wirkten glaubhaft. Diese Diagnose habe er, der behandelnde Arzt, aufgrund der gültigen WHO-Kriterien (ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen) sowie dem klinischen Bild des Patienten festgestellt. In der Zusammenschau sei zu berichten, dass der Kläger zu 1.) vom bisherigen Verlauf her deutlich krank und beeinträchtigt sei und eine regelmäßige psychiatrische sowie psychotherapeutische Behandlung zur weiteren Stabilisierung und bestenfalls Genesung brauche. Auf telefonische Nachfrage des Einzelrichters ergänzte Dr. … seine Diagnose dahin, dass bei einer Rückführung des Klägers zu 1.) in den Irak das große Risiko bestehe, dass der Kläger retraumatisiert werde. Dies hätte zur Folge, dass erneut noch nicht aufgearbeitete Ängste ausgelöst würden und sich die Grunderkrankungen wie die posttraumatische Belastungsstörung und die schwere Depression massiv verschlimmern würden. Das Krankheitsbild des Klägers zu 1.) sei durch psychotische Symptome (wie Stimmenhören) und Alkohol- beziehungsweise Cannabis-Abusus noch verschlimmert und er sei bereits jetzt extrem instabil.
Aus all dem folgt, den formellen Anforderungen des § 60a Abs. 2 c AufenthG genügend, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers bei einer Rückführung in den Irak so erheblich verschlimmern würde, dass eine Behandelbarkeit im Irak wegen dieser massiven, Verschlimmerung nicht mehr möglich ist und der Kläger zu 1.) sich dadurch in Lebensgefahr befinden würde. Deshalb ist in seinem Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Hieraus folgt auch für die übrigen Kläger zu 2.) bis 5.) ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch ihnen droht im Irak im Falle einer Abschiebung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts daraus, dass die Kläger zu 2.) bis 5.) alleine, das heißt als alleinstehende Frau mit drei minderjährigen Kindern in ihre Heimat zurückkehren würden, weil für den Ehemann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht.
Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen ist es im Irak derzeit für eine alleinstehende Frau mit mehreren minderjährigen Kindern nahezu unmöglich, ohne die Unterstützung der Familie und 1 oder der Gesellschaft zu leben. Insbesondere ist es diesem Personenkreis nicht möglich, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin zu 2.) im Falle ihrer Rückkehr in den Irak unterhalb des Existenzminimums dahinvegetieren müsste. Dies begründet auch für sie und ihre minderjährigen Kinder ein Abschiebungsverbot (vgl. Urteil der Kammer vom 04.04.2017 - 2 A 259/16 -).
Der Feststellung dieses nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG steht ausnahmsweise nicht die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG entgegen. Danach werden Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung beziehungsweise Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und die Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG befunden wird. Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte aus Gründen der Gewaltenteilung zu respektieren. Gleichwohl ist die Feststellung eines Abschiebungsverbotes in Bezug auch auf die Klägerin zu 2.) und ihre minderjährigen Kinder vorliegend geboten. Denn es geht hier um einen individuellen Einzelfall, der von den ausländerrechtlichen Erlassen für irakische Staatsangehörige nicht erfasst wird. [...]