VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16.11.2017 - 9 L 6938/17.F.A - asyl.net: M25985
https://www.asyl.net/rsdb/M25985
Leitsatz:

1. Die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Zweitantrag ist nur bei Kenntnis der Gründe der Ablehnung und des Verfahrensablaufs in dem anderen EU-Mitgliedstaat möglich.

2. Außerdem bestehen Bedenken gegen die Ablehnung eines Abschiebungsverbots bezüglich Somalias wegen der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage aufgrund des dort herrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Unzulässigkeit, Somalia, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, extreme Gefahrenlage, Existenzgrundlage, Versorgungslage,
Normen: AsylG § 71a, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Ob Wiederaufnahmegründe vorliegen, lässt sich aber allein bei Kenntnis des Vorverfahrens, der dort angeführten Gründe und des dortigen Verfahrensablaufes einschließlich der jeweiligen Entscheidungen beurteilen. Die entsprechenden Angaben aus dem Vorverfahren erhält das BAMF gem. Art. 34 Abs. 2 und 3 Dublin III vom Staat des Erstverfahrens, sofern der Flüchtling seine schriftliche Zustimmung dazu erteilt. Die allgemeine Frage an den Betroffenen im Rahmen des Dublin-Gespräches gem. Art. 5 Dublin III, ob er ggf. Wiederaufnahmegründe vorzubringen habe, genügt hier nicht. Der Betroffene kann sich zu etwaigen Wiederaufnahmegründen nur dann äußern, wenn er genaue Kenntnis darüber hat, gegenüber welchem Vorverfahren und insbesondere im Hinblick auf welchen konkreten Ermittlungs- und Entscheidungsstand neue Umstände geltend zu machen wären. Die Kenntnis dazu fehlt dem Betroffenen in aller Regel (Bruns in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 11).

Zudem bestehe erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verneinung durch das Bundesamt von Abschiebungsverboten.

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Es wird eine erhebliche individuell-konkrete Gefahr gefordert.

Dies wird bestätigt durch den Wortlaut ("für diesen Ausländer"). Individuell droht die Gefahr, wenn ihr der Betroffene selbst und persönlich ausgesetzt ist, allgemein, wenn ein Missstand im Zielstaat die Bevölkerung insgesamt oder eine Bevölkerungsgruppe so trifft, dass grundsätzlich jedem, der der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe angehört, eine Gefahr für die in § 60 Abs. 7 genannten Schutzgüter droht.

Erheblich ist die Gefahr, wenn sie ein gewisses Gewicht hat, konkret, wenn ihre Verwirklichung mit einer auf stichhaltigen Gründen beruhenden beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Es sind nur zielstaatsbedingte Gefahren relevant. Denn die Gefahr muss "dort" in dem "anderen Staat" drohen. Außerdem muss die Gefährdung landesweit bestehen. Von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird, ist ohne Bedeutung. Insbesondere wird keine staatliche oder quasi-staatliche Urheberschaft gefordert (Möller/Stiegeler in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 60 AufenthG, Rn. 32).

Die Ablehnung einer der Antragstellerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuell drohenden, erhebIichen und konkreten Gefahr, durch das BAMF, begegnet erheblichen Bedenken.

In Mogadischu herrscht ein Konflikt. In Süd- und Zentralsomalia kämpfen die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM gegen die Al Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Die meisten größere Städte sind schon längere Zeit in der Hand der Regierung, in den ländlichen Gebieten herrscht oft noch die Al Shabaab. In den "befreiten" Gebieten, zu denen seit August 2011 auch die Hauptstadt Mogadischu zählt, finden keine direkten kämpferischen Auseinandersetzungen mehr statt. Die Al Shabaab verübt jedoch immer wieder Sprengstoffattentate auf bestimmte Objekte und Personen, bei denen auch Unbeteiligte verletzt oder getötet werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 1. Januar 2017, Stand November 2016, S. f.).

Das Auswärtige Amt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 1. Januar 2017, Stand November 2016, S. 4 f.) führt aus: "Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Gleichwohl gibt es keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatIichen Strukturen sind fragil und schwach." "In vielen Gebieten der Gliedstaaten Süd-/Zentralsomalias und der Bundeshauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg. In den von Al Schabaab befreiten Gebieten kommt es zu Terroranschlägen durch diese islamistische Miliz."

Schwere Anschläge in Mogadischu gab es zuletzt am 14.10.2017 und 28.10.2017 (https://www.nzz.ch/international/blutbad-am-samstagnachmittag-ld.1322100; https://www.nzz.ch/international/mehrere-tote-bei-anschlag-mit-zwei-fahrzeugbomben-in-mogadiscio-ld.1324774.

)Typische Beispiele für die Annahme eines solchen bewaffneten Konflikts in Fällen, in denen zwar keine Kämpfe zwischen Streitkräften oder vergleichbar organisierten Gruppen vorliegen, die aber über bloße Tumulte oder innere Unruhen hinausgehen, sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der Konflikt muss jedenfalls ein gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Bei einer Gesamtwürdigung der Umstände kann es genügen, dass die Konfliktparteien in der Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird (BVerwG, U. v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 Rn. 23).

Eine Rückkehr in jedwede Herkunftsregion Somalias kann aus der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich über Mogadischu erfolgen (Auswärtiges Amt a.a.O.).

Es ist zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der Sicherheitslage in Zentralsomalia und insbesondere Mogadischu davon auszugehen, dass sich für dorthin zurückkehrende Zivilpersonen aufgrund ihrer Anwesenheit dort eine hinreichende Verdichtung zur erheblichen, individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit von Zivilpersonen ergibt (VG München, U. v. 27.02.2017 - M 11 K 16.34746; VG Magdeburg, U. v. 06.04.2017 - 8 A 791/16, BeckRS 2017, 108690). Die Antragstellerin hat zudem vorgetragen, individuell von der Al Shabaab bedroht worden zu sein, damit sie einen Anschlag auf ihre Mutter und Schwester ermöglicht.

Gefahrerhöhend ist außerdem die anhaltende Dürre. In Somalia sind Gewalt und Dürre Auslöser dafür, dass seit November 2016 eine halbe Million Menschen entwurzelt wurden. Mehr als 72.000 Flüchtlinge haben in der Hauptstadt Mogadischu Zuflucht gesucht. In Somali ist die Rate der Unterernährung sehr hoch (UN Flüchtlingshilfe www.uno-fluechtlingshilfe.de/news/afrika-hunger-bedroht-das-leben-von-millionen-fluechtlingen-631.html, Stand: 16.06.2017; www.uno-fluechtlingshilfe.de/news/afrika-unhcr-warnt-vor-hungerkatastrophe-606/, Stand: 19.04.2017). [...]