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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 05.09.2017 - 1 K 2320/17.KS.A - asyl.net: M25999
https://www.asyl.net/rsdb/M25999
Leitsatz:

1. Wird eine Person, die aus politischen Gründen inhaftiert wurde, wieder freigelassen, ist davon auszugehen, dass sie von den äthiopischen Behörden nicht (mehr) als ernsthafter Gegner angesehen wird und mit einer Verfolgung nicht mehr zu rechnen ist.

2. Die Einfache Mitgliedschaft in einer oppositionellen Organisation oder Partei im Exil führt nicht zu einer Verfolgungsgefahr im Fall der Rückkehr.

3. Angehörige der Oromo unterliegen in Äthiopien keiner Gruppenverfolgung (auch nicht im Hinblick auf die aktuellen politischen Entwicklungen).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Exilpolitik, Oromo, Vorverfolgung, Rückkehrgefährdung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Nach den Angaben des Klägers zu 1. war dieser in Äthiopien für eine Oppositionspartei tätig und wurde im Jahr 2005 verhaftet und ein Jahr lang lang inhaftiert. Aus dem Umstand, dass er dann freigelassen wurde, schließt das Gericht, dass jedenfalls im Jahr 2005 nichts mehr gegen den Kläger zu 1. vorlag und man ihn insbesondere auch nicht mehr als Opponenten der Regierung ansah, denn ansonsten wäre er wohl kaum freigelassen worden.

Die Verhaftung des Klägers zu 1. erfolgte nach einem in Äthiopien üblichen Muster, wonach solche Personen, die separatistischer Bestrebungen verdächtigt werden, zunächst einmal inhaftiert und misshandelt werden, um sie zukünftig von ihrem Vorhaben abzuhalten. Strafverfahren eingeleitet werden nur bei den wenigsten; ein großer Teil der Inhaftierten wird wieder aus der Haft entlassen, weil der äthiopische Staat der Meinung ist, dass sie zukünftig keine Gefahr mehr für das Regime darstellen. So war es auch im Falle des Klägers zu 1.. Dies ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der Freilassung, nichts gegen den Kläger vorlag. Tatsächliche Staatsfeinde werden von Seiten des äthiopischen Staates nicht freigelassen, sondern einer Strafhaft zugeführt.

Letztlich handelte es sich bei der Inhaftierung damit um eine Einschüchterungsmaßnahme gegen den Kläger, die zwar hinsichtlich Dauer und Intensität die Schwelle der Asylrelevanz überschritten hat, bei der aber nach der Freilassung nicht zu befürchten war, dass dem Kläger weitere Maßnahmen landesweit drohen würden. Eventuellen lokalen Nachstellungen örtlicher Sicherheitskräfte hätte sich der Kläger zu 1. im Übrigen auch durch Wohnsitznahme in einem anderen Landesteil entziehen können. Grundsätzlich bestand damals und besteht heute die Möglichkeit für Opfer staatlicher Repressionen, ihren Wohnsitz in andere Landesteile zu verlegen und somit einer lokalen Bedrohungssituation zu entgehen (AA, Lagebericht vom 6. März 2017).

Auch für die Klägerin zu 2. vermag das Gericht keine Vorverfolgung festzustellen. Auch sie wurde nach einer dreimonatigen Inhaftierung wieder freigelassen, so dass davon auszugehen ist, dass der äthiopische Staat im September 2005 die Klägerin zu 2. nicht mehr als Gefahr angesehen hat.

Den danach unverfolgt ausgereisten Klägern droht auch bei einer jetzigen Rückkehr nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, dass die Kläger im Rückkehrfall festgenommen oder wegen ihrer politischen Überzeugung misshandelt werden könnten. Gegen beide Kläger lag zum Zeitpunkt der Ausreise nichts mehr vor, und es ist nicht ersichtlich, dass dies heute anders sein sollte. Hinzu kommt bei beiden Klägern, dass inzwischen mehr als ein Jahrzehnt seit den Inhaftierungen vergangen ist. Dass der äthiopische Staat an den Klägern zu 1. und 2., die sich im Heimatland nur untergeordnet politisch betätigt haben, nach einer derart langen Zeit noch Interesse zeigen könnte, hält das Gericht für höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar ausgeschlossen.

Auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Oromo droht den Klägern zu 1., 3. und 4. keine landesweite Verfolgung in Form der Gruppenverfolgung. Zwar kommt es in den Grenzgebieten der Siedlungsgebiete der Volksgruppen der Oromo und der Somali im Osten des Landes immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen sowohl zwischen den verschiedenen Volksgruppen als auch mit den Sicherheitskräften, diese erreichen jedoch nicht die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Intensität. Außerdem richten sich die staatlichen Übergriffe auch nicht gegen alle Oromo, sondern haben lediglich den Zweck, terroristische Aktivitäten, insbesondere solche der OLF (Oromo Liberation Front) zu bekämpfen, die sich nicht am Friedensabkommen mit der Regierung im Oktober 2010 beteiligt hat und vom äthiopischen Staat als terroristische Gruppierung angesehen wird.

Schließlich droht dem Kläger zu 1. auch wegen seiner exilpolitischen Betätigung für die EDFM keine politische Verfolgung in Äthiopien.

Nach der Kammerrechtsprechung, die in Übereinstimmung mit der einschlägigen Rechtsprechung der meisten Verwaltungsgericht stehen dürfte, führt nicht jede wie auch immer geartete Form der Betätigung für eine der zahlreichen politischen äthiopischen Exilgruppen im Ausland bei einer Rückkehr nach Äthiopien zu staatlichen Repressionen. Vielmehr kommt es zur Feststellung eines relevanten Gefährdungsgrades grundsätzlich darauf an, ob eine Organisation von den äthiopischen Stellen etwa als terroristisch eingestuft wird und auf welche Art und in welchem (öffentlich wahrgenommenen) Umfang der oder die Betreffende im Einzelfall exilpolitisch betätigt hat (vgl. dazu etwa VG Kassel, Urteil vom 15. Januar 2014 -1 K 777/13.KS.A -; vom 20. Oktober 2012 - 1 K 377/12.KS.A -, nicht veröffentlicht; siehe auch VG Würzburg, Urteil vom 20. März 2012 - W 3 K 10.30354 -, VG Bayreuth, Urteil vom 6. Juli 2011 - B 3 K 10.30246 -, VG München, Urteile vom 6. Mai 2010 - M 12 K 10.30210 - und vom 26. Mai 2010 - M 12.K 10.30271 -, jeweils Juris).

Diese Einschätzung ist unter Berücksichtigung des Erkenntnisstandes, den der Einzelrichter aus den in das Verfahren eingeführten einschlägigen Auskünften und Erkenntnisquellen zur aktuellen Situation in Äthiopien gewonnen hat, weiterhin aufrecht zu erhalten. Auch weiterhin wird man davon ausgehen können, dass allein die bloße Mitgliedschaft in einer Exilorganisation nicht in jedem Fall die Gefahr begründet, dass der äthiopische Staat im Falle einer Rückkehr gegen den Betreffenden Schritte einleiten wird. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Veröffentlichung von Leserbriefen, Artikeln, Gedichten oder anderen Beiträgen in regimekritischen Publikationen, zumal dann, wenn deren Verbreitungsgrad als eher gering einzuschätzen ist. Dem äthiopischen Staat ist durchaus bekannt, dass solche Mitgliedschaften und Veröffentlichungen zumindest teilweise auch gezielt dazu eingesetzt werden, Nachfluchtgründe zu schaffen. Insofern dürfte es für den äthiopischen Staat bei objektiver Betrachtung wenig Anlass geben, in jedem Fall tätig zu werden.

An dieser Einschätzung hat sich für das Gericht auch nichts durch die jüngsten Ereignisse in Äthiopien geändert. So kam es seit Mitte 2015 zu Massenprotesten in der Provinz Oromia gegen umstrittene Landreformen, durch die unter anderem das Gebiet der Hauptstadt Addis Abeba auf Kosten der Provinz Oromia ausgedehnt werden sollte.

Zwar wurden einige Monate später die Pläne in Teilen zurückgenommen, doch die größte Ethnie der Oromo demonstrierte weiter für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Nachdem sich auch andere Gruppierungen dem Protest angeschlossen hatten, kam es landesweit zu Demonstrationen, die immer wieder gewaltsam niedergeschlagen wurden. Bei diesen Polizeiaktionen starben Berichten zufolge mehrere hundert Demonstranten. Anfang Oktober 2016 kamen mindestens 50 friedliche Demonstranten bei einer Massenpanik in der Stadt Bishoftu ums Leben, die durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei provoziert worden war. Als Folge hiervon rief die Regierung in Addis Abeba den Ausnahmezustand aus, der am 09. Oktober 2016 in Kraft trat und die Möglichkeiten für oppositionelle Gruppen noch weiter eingeschränkt hat (AA, Lagebericht vom 6. März 2017). [...]