VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 31.01.2018 - 5 A 142/17 MD - asyl.net: M26007
https://www.asyl.net/rsdb/M26007
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung für eine 70-jährige Frau aus Afghanistan, die langjährig als Krankenschwester tätig war, deren Töchter berufstätig sind (bei der Staatssicherheit und der Zentralbank), und deren Ehemann und Schwiegersohn von Taliban ermordet wurden.

2. Die Betroffene ist vorverfolgt ausgereist, und ihr droht bei Rückkehr eine Verfolgungsgefahr, da ihr von der Taliban eine entgegenstehende politische Überzeugung zugeschrieben wird.

3. Staatlicher Schutz vor den Taliban ist nicht zu erwarten. Es steht keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, da landesweite Verfolgung droht und eine 70jährige Witwe nicht in der Lage sein wird, eigenständig ihr Existenzminimum zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, berufstätige Frauen, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, alleinstehende Frauen, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit, Existenzgrundlage, Verwestlichung, verwestlicht, Sippenhaft, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Familienangehörige,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Klägerin der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, da sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung außerhalb ihres Herkunftslandes befindet (§§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). [...]

Die Einzelrichterin glaubt der Klägerin, dass die Familie mehrfach wegen der Tätigkeit ihrer Tochter für die Staatssicherheit bedroht worden ist und nach der Ermordung ihres Mannes sowie ihres Schwiegersohnes durch die Taliban die Bedrohungen weiterhin stattfanden.

Das Vorbringen der Klägerin wird durch die Auskunftslage gestützt, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass nicht nur die Klägerin selbst 22 Jahre lang berufstätig war, sondern auch zumindest zwei ihrer Töchter für Sicherheitsbehörden bzw. die Zentralbank tätig waren. Ihre Töchter traten damit im öffentlichen Leben auf, was den verbreitet konservativen gesellschaftlichen Normen grundsätzlich nicht entspricht.

Die Wahrnehmung ihrer Töchter als verwestlicht bzw. als den sozialen Normen zuwider handelnd fällt unweigerlich auf die Klägerin zurück, die selbst berufstätig war und so in der Familie ein entsprechendes Vorbild für ihre Kinder - sowie auch für ihre Enkelkinder - gegeben hat. Insoweit hat die Klägerin auch beim Bundesamt angegeben, dass ihr Mann mehrfach aufgrund der Tätigkeit seiner Tochter für den Staatsdienst gewarnt worden ist und führte in der mündlichen Verhandlung weiter aus, die Taliban hätten ihm vorgeworfen, die Tätigkeit seiner Tochter und seines Schwiegersohnes nicht zu unterbinden.

Der Schwiegersohn der Klägerin ist nach ihrem glaubhaften Vortrag für den TV-Sender Tolo tätig gewesen. Hierzu führt ACCORD in seiner Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 08.02.2017 aus, die afghanische Internetzeitung Khaama Press (KP) habe im Oktober 2015 berichtet, dass die Taliban in einer Pressemitteilung die privaten Fernsehsender 1TV und Tolo zu militärischen Zielen (der Taliban) erklärt hätten und diese vor Anschlägen gewarnt hätten. [...] Der US-Nachrichtensender CNN habe im April 2016 berichtet, dass die Taliban nun begonnen hätte, offen gegen JournalistInnen vorzugehen. So seien im Januar 2016 sieben MitarbeiterInnen des afghanischen Senders Tolo auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bei einem Selbstmordanschlag auf ihren Minibus getötet worden. [...]

Vor diesem Hintergrund ist die Einzelrichterin überzeugt, dass die Taliban der Klägerin als Mutter bzw. Schwiegermutter von Personen, die ihren Vorstellungen und Überzeugungen zuwiderhandeln, eine politische Überzeugung zugeschrieben haben und zuschreiben werden, die ihrer eigenen entgegensteht. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin aufgrund ihrer geschwächten Position als 70 Jahre alte Frau und Witwe, in erheblichem Maße auf die Unterstützung ihrer Familie - und damit gerade ihrer Kinder und Schwiegerkinder - angewiesen ist. [...]

Im Fall der Klägerin wiegt besonders schwer, dass bereits ihr Ehemann erschossen worden ist und die Familie - sowohl die Klägerin als auch ihre Tochter - weiterhin bedroht worden sind. Hiermit haben die Taliban jedenfalls psychische Gewalt in einer Form ausgeübt, die die Schwelle des § 3a Abs. 1 AsylG überschreitet. Auch haben die Taliban so deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ein besonderes Interesse an der Famlie der Klägerin und - wie die Drohungen zeigen ("Er sagte, dass mein Mann nur der Anfang sei und dass der Rest der Familie auch sterben müsse.") - gerade auch an der Person der Klägerin haben, so dass nicht davon auszugehen ist, dass die Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Kabul unbehelligt leben könnte.

Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass die Klägerin Afghanistan vorverfolgt - und zwar verfolgt aufgrund einer ihr zumindest zugeschriebenen politischen Überzeugung - verlassen hat. Stichhaltige Gründe, aufgrund derer deavon ausgegangen werden könnte, dass sie einer solchen Verfolgungsgefahr im Fall ihrer Rückkehr nicht mehr unterliegen wird, sind nicht ersichtlich.

Die Islamische Republik Afghanistan ist auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. [...]

Nach der derzeitigen Auskunftslage kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin in einem anderen Landesteil Afghanistans ohne Furcht vor Verfolgung leben könnte und ihr somit eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. [...]

Die Klägerin ist als Witwe im Alter von 70 Jahren voraussichtlich nicht in der Lage, sich selbstständig überhaupt ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren. Ihre gesamte Familie, bis auf zwei Schwestern, befindet sich nicht mehr in Afghanistan. [...]

Ohne die Möglichkeit, auf die Unterstützung ihrer Familie zurückzugreifen und ohne die realistische Chance auf eine ausreichende Existenzsicherung aus eigener Kraft ist es der Klägerin folglich nicht zuzumuten, sich in einem anderen Landesteil außerhalb Kabuls niederzulassen. [...]