Subsidiärer Schutz für Angehörige der Tawergha-Minderheit aus Libyen:
1. Die Minderheit der Tawergha unterliegt gegenwärtig in Libyen keiner Gruppenverfolgung; seit 2016 gibt es Bemühungen um eine Lösung ihrer Probleme, insbesondere um eine Repatriierung in die Stadt Tawergha bei Misrata.
2. Für ehemalige Mitarbeiter des Militärs und der Sicherheitsbehörden unter Gaddafi besteht keine Verfolgungsgefahr, wenn sie keine hochrangigen Ämter innehatten.
3. Die Kläger haben jedoch Anspruch auf subsidiärer Schutz, da die Zugehörigkeit zu den Tawergha in dem in Libyen herrschenden Konflikt einen gefahrerhöhenden Umstand darstellt.
(Leitsätze der Redaktion; unter Auswertung zahlreicher aktueller Herkunftslandinformationen)
[...]
Ausgehend hiervon begründet der Vortrag der Kläger nach entsprechender Würdigung durch das Gericht keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Das Gericht ist anhand dieses Vorbringens nicht davon überzeugt, dass die Kläger vorverfolgt ihr Heimatland verlassen haben und sie bei einer Rückkehr von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG bedroht sind. Die Kammer verkennt dabei nicht die schwierige Situation der Tawergha in Libyen (a). Jedoch ergeben sich aus dem Vortrag der Kläger keine anlassgeprägten individuellen Verfolgungshandlungen (b). Schließlich droht den Klägern auch keine Gruppenverfolgung allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Tawergha (c). [...]
b) Zwar ergibt sich aus diesen Ausführungen eine nach wie vor schwierige Situation für die Tawerghas in Libyen. Die Kläger haben aber kein individuelles Verfolgungsschicksal, d.h. speziell gegen sie gerichtete asylrelevante Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG glaubhaft gemacht. [...]
Vorliegend ergibt sich aus den allgemein gehaltenen Ausführungen der Kläger auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht die für eine Verfolgungshandlung erforderliche Schwere sämtlicher Repressalien. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass angesichts der derzeit schwierigen humanitären Situation in Libyen die gesamte Zivilbevölkerung Libyens unter sehr schlechten Lebensverhältnissen zu leiden hat. [...] Das Gericht hat im Ergebnis nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Kläger unterschiedlichen, gegen sie gerichteten Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt waren, dass ihre Betroffenheit mit der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vergleichbar ist.
cc) Soweit der Kläger zu 1) ausgeführt hat, zu Zeiten Gaddafis als Sicherheitskraft in einem Büro für Landwirtschaft gearbeitet zu haben, und sein Onkel sei General in Misrata und seine Brüder ebenfalls für die Armee Gaddafis tätig gewesen, ergibt sich auch daraus keine asylrelevante Verfolgung. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln besteht deshalb keine Verfolgungsgefahr für die Kläger. [...]
Diese Auskunftslage zugrunde gelegt, ist nicht davon auszugehen, dass die Kläger bei ihrer Rückkehr wegen der früheren Tätigkeit des Klägers zu 1) bzw. von Angehörigen des Klägers zu 1) im Militär Gaddafis asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wären (so auch: VG Leipzig, Urt. v. 23. Mai 2017 - 6 K 1146/16.A und 6 K 1147/16.A - juris Rn. 23 bzw. 24). Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1) lediglich als Sicherheitskraft für ein Gebäude gearbeitet hat und auch dessen Angehörige keine hochrangigen politischen oder militärischen Ämter im System Gaddafis bekleidet haben. [...]
c) Den Klägern droht auch keine Verfolgung allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tawergha. [...]
Wie oben dargestellt, ist es auch im Jahr 2016 zu einzelnen Angriffen auf Lager der Tawergha gekommen. Im Vergleich zu den Vorjahren ist die Anzahl der Anschläge jedoch geringer geworden (vgl. hierzu die Ausführungen oben auf den Seiten 12 f.). Angesichts dessen sowie der aktuellen Bemühungen um eine Rückkehr der Tawergha in ihre Heimatstadt und der in diesem Zusammenhang im August 2016 und am 19. Juni 2017 zwischen Vertretern der Einwohner Tawerghas und Misratas abgeschlossenen Vereinbarungen ist aktuell nicht von einer gruppengerichteten, d.h. alle Mitglieder der Volksgruppe der Tawergha erfassenden Verfolgung auszugehen. Zur Überzeugung des Gerichts sind die Verfolgungshandlungen nicht derart in quantitativer und qualitativer Hinsicht auf alle sich in Libyen aufhaltenden Angehörigen der Volksgruppe der Tawergha gerichtet, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entsteht (so auch: VG Leipzig, Urt. v. 23. Mai 2017 - 6 K 1146/16.A - juris Rn. 26; a. A.: VG Chemnitz, Urt. v. 24. August 2017 - 7 K 938/16.A - S. 23 ff. d. Entscheidungsabdrucks).
2. Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG. [...]
Hinsichtlich der Kläger ist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Volk der Tawergha und der sich daraus für sie ergebenden besonders schwierigen Situation in Libyen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens und ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt (b) im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (a) festzustellen. [...]
Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt ist hier nach beiden Begriffen zu bejahen. Davon ist aufgrund der bereits seit mehreren Jahren in Libyen vorherrschenden Situation auszugehen. [...]
b) Darüber hinaus ist die Kammer aufgrund der Ausführungen der Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie der vorliegenden Erkenntnismittel davon überzeugt, dass für die Kläger bei einer Rückkehr mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts festzustellen ist. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 19. Januar 2016 (Az: 5 A 487/15.A) zu der Frage, ob in Libyen Rückkehrer wegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts infolge willkürlicher Gewalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt sind, die Berufung zugelassen, inhaltlich allerdings noch nicht darüber entschieden. [...]
Diese Ausführungen zugrunde gelegt, liegen in den Personen der Kläger aufgrund deren Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tawergha gefahrerhöhende Umstände vor (aa), die dazu führen, dass auch das Vorliegen eines geringeren Niveaus willkürlicher Gewalt (bb) zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt (cc).
aa) Aus den obigen Darstellungen zur aktuel en Situation der Tawergha in Libyen ergibt sich, dass die Kläger allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe zum einen von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen sind als andere und zum anderen gerade wegen des bestehenden bewaffneten innerstaatlichen Konflikts zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte ausgesetzt sind. Wie bereits ausgeführt, sind die Tawergha schon aufgrund ihrer Hautfarbe nach außen für jedermann erkennbar. Da ihnen eine Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes zugeschrieben wird, sind sie damit Repressalien unterschiedlichster Art ausgesetzt. Nichtregierungsorganisationen berichteten fortlaufend über gezielte Beleidigungen, Belästigungen, Angriffe, Entführungen, Misshandlungen bis hin zu Folter und extralegalen Tötungen der Tawergha durch bewaffnete Milizen (Home Office (GB), Libya: Ethnic minority groups, Juni 2016, S. 5, 9 ff.; Foreign & Commonwealth Office, Libya - Country of Concern vom 12. März 2015). Besonders häufig und anhaltend wird von willkürlichen Festnahmen berichtet. Eine Vielzahl von Tawergha wurde nach der Vertreibung aus Tawergha in verschiedenen Städten Libyens an Kontrollpunkten, Camps, auf offener Straße, aus ihren Häusern, an ihrem Arbeitsplatz und sogar aus Krankenhäusern entführt und unverzüglich in Haftanstalten in Misrata untergebracht, wo Folter und Misshandlungen erfolgten. Einige Personen starben in Haft, andere bleiben weiterhin vermisst. Von Amnesty International eingeholte Zeugenaussagen vermuten, dass die mehr als 1.000 vermissten Tawergha gefangen genommen wurden und Massenhinrichtungen zum Opfer fielen. Im Hinblick darauf, dass viele Opfer von ihrer eigenen Inhaftierung und einer mehrheitlichen Freilassung nach einigen Wochen oder Monaten berichten, ist davon auszugehen, dass neben den mehr als 1.000 Personen ungeklärten Verbleibs insgesamt mehrere Tausend Tawergha ein (vorübergehendes) Entführungsschicksal erlitten, welches häufig mit Misshandlungen verbunden gewesen ist.
Auch 2016 und 2017 kam es zu Angriffen auf Lager der Tawergha mit verletzten und getöteten Zivilpersonen, darunter auch Frauen und Kinder. Eine Rückkehr in ihre Heimatstadt Tawergha ist trotz der im Juni 2017 geschlossenen Vereinbarung ungewiss. Die Tawergha werden weiterhin von Milizen an einer Rückkehr gehindert (vgl. hierzu die Ausführungen oben auf den Seiten 12 f.).
bb) Liegen somit im Falle der Kläger gefahrerhöhende Umstände vor, genügt nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet, um die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen. So liegt der Fall hier. [...]
Vorliegend kann ein tatsächlicher Zielort einer Rückkehr der Kläger im Sinne der dargestellten Rechtsprechung, d.h. das Gebiet, in welches die Kläger typischerweise zurückkehren würden, nicht ermittelt werden. Aus ihrer Heimatstadt Tawergha wurden sie vertrieben und die Stadt zerstört. Eine Rückkehr hierher ist aktuell nicht möglich. Vor ihrer Ausreise haben sie in Tripolis in einem Camp gelebt. Die Familienmitglieder des Klägers zu 1) leben nach dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung über das gesamte Land verstreut in Tripolis, Sabha, Al Kufra und Tobruk. Die Familie der Klägerin zu 2) lebt nach deren Angaben in einer Stadt 150 km westlich von Bengasi. Beide haben jedoch auch dargelegt, dass die Familien nicht lange an einem Ort bleiben können, vielmehr in den letzten Jahren immer wieder gezwungen waren, aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der erlebten Repressalien, wie Beschimpfungen, Bedrohungen und Erniedrigungen, ihren Wohnort zu wechseln. Die Lebensbedingungen seien schlecht, sie lebten in einfachen Hütten und seien ständig auf der Suche nach Sicherheit.
Diese Ausführungen der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigen die sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergebende Lage, wonach von einer landesweiten Gefahr für die Kläger auszugehen ist, so dass ein interner Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG nicht in Betracht kommt (a. A.: VG Leipzig, Urt v. 23. Mai 2017 - 6 K 1146/16.A - juris Rn 27). Eine Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG besteht dann, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Aufgrund ihres Äußeren und der dem Volk der Tawergha zugeschriebenen Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes sind die Kläger in keinem Landesteil ausreichend sicher (vgl. Home Office (GB), Libya: Ethnic minority groups, Juni 2016, S. 7; Home Office (GB), Libya: Actual or perceived supporters of former President Gaddafi, März 2017, S. 7). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln sind die Repressalien gegen die Tawergha nicht auf bestimmte Landesteile beschränkt. Dies wird auch daran ersichtlich, dass Anschläge auf Tawergha-Camps in verschiedenen Landesteilen erfolgten (vgl. hierzu die Ausführungen auf den Seiten 11 ff.), insbesondere auch im Umfeld von Tripolis und damit fernab der Stadt Misrata, von deren Milizen die Vertreibung der Tawergha ausging.
cc) Im Ergebnis einer wertenden Betrachtung unter Berücksichtigung auch der Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung und der medizinischen Versorgungslage, der oben ermittelten Zahlen ziviler Opfer in Libyen und unter besonderer Hervorhebung der im Falle der Kläger vorliegenden gefahrerhöhenden Umstände durch deren Zugehörigkeit zum Volk der Tawergha ist vorliegend von einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen. Auch wenn das festgestellte Risiko - je nach Zielgebiet - teilweise noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht in anderer Sache für unbedenklich gehaltenen Risiko von 1 : 800 bzw. 1 : 1.000 (vgl. BVerwG, Urt v. 17. November 2011 - 10 C 13/10 - juris Rn. 22 und - 10 C 11.10 - juris Rn. 20) entfernt ist, ergibt sich hier aufgrund des Vorliegens gefahrerhöhender Umstände ein Anspruch der Kläger auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. [...]