Flüchtlingsanerkennung wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung in Somalia:
1. Flüchtlingsanerkennung für eine Somalierin wegen der Gefahr der erzwungenen Wiederverheiratung nach dem Tod ihres Ehemannes und erneuten Genitalverstümmelung nach einer plastischen Operation in Deutschland.
2. Ihre drei Kinder können erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Anerkennung ihrer Mutter Familienflüchtlingsschutz erhalten. Der ältesten Tochter, die während des Asylverfahrens der Mutter volljährig geworden ist, ist Familienasyl zu gewähren, da sie ihren Asylantrag noch als Minderjährige gestellt hat.
(Leitsätze der Redaktion; Gewährung von Familienasyl, obwohl bei zwei Töchtern ebenfalls geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegt)
[...]
Der Klägerin zu 1. steht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß den Voraussetzungen des § 3 AsylG zu. [...]
Gemessen an den genannten Voraussetzungen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Es ist insbesondere in den Blick zu nehmen, dass die Klägerin zu 1. bei einer Rückkehr nach Somalia erneut den Strapazen einer Genitalverstümmelung in Form einer erneuten Verengung der Vagina ausgesetzt sein würde. Die Klägerin hat sich bereits 2015 einer plastischen Operation zur Rekonstruktion der Vulva unterzogen (vgl. Entlassungsbericht ... vom ... 2015, Blatt 169 f BA). Die Gefahr, erneut dieser Prozedur unterworfen zu werden, erachtet das Gericht angesichts der sehr schwierigen Lage von Frauen und Mädchen in Somalia in jeder Hinsicht als berechtigt und konkret (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 1. Januar 2017, Stand November 2016, Seite 12, 13). Ein selbstbestimmtes Leben ohne den Rahmen der elterlichen Familie oder Ehe ist in Somalia nicht möglich. Im Falle einer Rückkehr nach Somalia würde sie zum einen erneut auf die Familie ihres verstorbenen Mannes treffen und wäre der Gefahr einer zwangsweisen Verheiratung mit einem der Brüder ihres Mannes ausgesetzt. Zum anderen wäre die Klägerin im Zusammenhang mit einer erneuten Eheschließung mit dem Problem konfrontiert, dass sie sich in Deutschland einer rekonstruierenden Operation im Vaginalbereich unterzogen hat. Damit hat sie sich bewusst der in Somalia herrschenden Tradition entgegengestellt. Eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch nicht staatliche Akteure nach § 3 c Nr. 3 AsylG i.V.m. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG ist daher bei einer Rückkehr der Klägerin konkret zu befürchten.
Hinsichtlich der Kläger zu 2. bis 4. gilt folgendes: Gemäß § 26 Abs. 2 und 5 AsylG ist ein minderjähriges Kind eines Flüchtlings auf Antrag als Flüchtling anzuerkennen, wenn die Anerkennung des Elternteiles als Flüchtling unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Insoweit fehlt es im Zeitpunkt der Urteilsentscheidung noch an der Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin zu 1. Den Klägern zu 2. bis 4. ist daher die Flüchtlingsanerkennung erst mit Rechtskraft dieses Urteils zuzuerkennen. Dem wird durch die tenorierte aufschiebende Bedingung Rechnung getragen (vgl. VG Dresden, Urteil vom 20. Juli 2017 - 12 K 2836/16.A; VG München, Urteil vom 22. April 2016 - M 16 14.30987 - beide zitiert nach Juris). Die inzwischen volljährige Klägerin zu 2. hat den Asylantrag vor Eintritt der Volljährigkeit gestellt (§ 26 Abs. 2 AsylG). [...]