VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 24.08.2017 - 11 B 17.30392 - Asylmagazin 4/2018, S. 127 ff. - asyl.net: M26044
https://www.asyl.net/rsdb/M26044
Leitsatz:

Zurückweisung der Berufung gegen die Ablehnung des Asylantrags eines Reservisten aus der Ukraine:

1. Aktuelle Herkunftslandinformationen ergeben, dass zur Zeit keine Mobilisierungswelle geplant ist, sondern vermehrt Berufssoldaten in die Armee aufgenommen werden. Daher droht dem Kläger als Reservist nicht die Einberufung zum Militärdienst.

2. Der Kläger hat keine aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Militärdienst glaubhaft gemacht.

3. Nach aktuellen Erkenntnismitteln werden im ukrainischen Militärdienst keine völkerrechtswidrigen Handlungen begangen. Übergriffe wie die für die Jahre 2014 und 2015 berichteten sind nach einer Deeskalation aktuell nicht mehr wahrscheinlich.

4. Vermutlich würde der Kläger überhaupt nicht bestraft werden, weil er nicht wirksam zum Militärdienst einberufen wurde. Laut Auskunft des Auswärtigen Amts sind Einberufungsbefehle in der Ukraine nur wirksam, wenn sie Betroffenen persönlich gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt wurden. Die Aushändigung an Dritte kann keine rechtlichen Konsequenzen haben.

5. In Haftanstalten zur Verbüßung kürzerer Freiheitsstrafen sind keine Missstände anzutreffen, die zu einer unmenschlichen Behandlung führen. Die Verhältnisse in ukrainischen Gefängnissen haben sich verbessert.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ukraine, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, offensichtlich unbegründet, Ostukraine, Berufung, Grundsätzliche Bedeutung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Bestrafung, Erkenntnismittel, Haft, Haftbedingungen, Mobilisierung, Reservist, Strafe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

17 Gemessen an diesen Vorgaben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung.

18 Den aktuellen Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass keine neue Mobilisierungswelle geplant ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 7.2.2017, Stand; Januar 2017 - Lagebericht 2017 - Nr. 11.1.6, S. 9), sondern dass verstärkt Berufssoldaten in die Armee aufgenommen werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report Ukraine, May 2017 - BFA-Report - Chapter 3.1.2, S. 24 f. und Chapter 3.1.3.3, S. 31). Für den Kläger als Reservist besteht daher bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland auf absehbare Zeit keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass er eingezogen wird.

19 Der Kläger hat darüber hinaus auch keine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Militärdienst glaubhaft gemacht. [...]

21 Abgesehen davon, dass keine neue Mobilisierungswelle geplant ist (s.o. Nr. 1) und eine Einberufung des Klägers daher nicht hinreichend wahrscheinlich ist, würde dem Kläger bei einer Verweigerung des Militärdienstes auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Strafverfolgung oder Bestrafung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG drohen. Den in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass der Dienst im staatlichen ukrainischen Militär hinreichend plausibel und mit hoher Wahrscheinlichkeit völkerrechtswidrige Handlungen umfassen würde. [...] Zwar wird auch weiterhin von Übergriffen der Streitkräfte berichtet (vgl. Office of the United Nations High Commissioner for Human rights, Report on the human rights Situation in Ukraine 16 August to 15 November 2016 - OHCHR-Report November 2016, Chapter ILA und II.D.1). Es kam jedoch zu einer Deeskalation (vgl. OHCHR-Report November 2016, Chapter ILA, S. 8 Rn. 17) und teilweise findet auch eine Strafverfolgung bei Übergriffen statt (vgl. OHCHR-Report November 2016, Chapter I, S. 7 Rn. 11). Unabhängig davon, ob die im Amnesty-Bericht Mai 2015 beschriebenen Probleme tatsächlich Verbrechen oder Handlungen der Streitkräfte umfassten, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG gefallen wären, hat sich die Situation durch das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk verbessert. Zwar gibt es weiterhin Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen und ggf. gelegentliche Übergriffe der Streitkräfte. Aktuelle Erkenntnisse, nach denen im ukrainischen Militärdienst mit hoher Wahrscheinlichkeit völkerrechtswidrige Handlungen begangen werden, hat der Kläger aber nicht genannt und sind nicht ersichtlich. [...]

22 II. Es liegen auch keine Gründe für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG vor. [...]

23 [...] Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger in der Ukraine keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

24 1. Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung, denn eine strafbare Mobilisierungsentziehung liegt nach Überzeugung des Senats nicht vor. [...]

Nach der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 24. Mai 2017 an das Bundesamt (Gz. 508-516.80/49347) dürfen Einberufungsbefehle dem Betroffenen nur persönlich mit Empfangsbestätigung übergeben werden. Die Aushändigung an Dritte kann keine rechtlichen Konsequenzen für den Betroffenen nach sich ziehen. [...]

26 Darüber hinaus gibt es nach der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 24. Mai 2017 für den Wehrdienst in der Ukraine drei unterschiedliche Benachrichtigungen/ Einberufungsbefehle. Zuerst erfolgt eine Benachrichtigung, zu einem bestimmten Zeitpunkt zwecks Abgleich der persönlichen Daten beim Kreiswehrersatzamt zu erscheinen. Dann erfolgt eine Einladung zu einer medizinischen Untersuchung. Erst danach wird der tatsächliche Einberufungsbefehl zugestellt, mit der Vorgabe, wann und wo der betreffende ukrainische Staatsbürger zu erscheinen hat und welche persönlichen Gegenstände mitzuführen sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem ersten Schreiben nur um eine Aufforderung, zum Datenabgleich zu erscheinen. Das zweite Schreiben enthält auch eine Einladung zu einer medizinischen Untersuchung. Eine Einberufung zum Militärdienst ist aber von beiden Schreiben nicht umfasst.

27 2. Auch wenn gleichwohl bei seiner Rückkehr ein Strafverfahren gegen den Kläger eingeleitet werden würde, so wie er befürchtet, weil er die Aufforderungen zur Registrierung und medizinischen Untersuchung nicht beachtet hat, wäre nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verurteilung zu rechnen. [...]

29 Im Übrigen haben nach der Auskunftslage im März/April 2014 z.B. 70 Prozent der Reservisten in Kiew die Ladungen ignoriert und sind nicht bei den Rekrutierungsbüros erschienen (BFA-Report, Chapter 3.3.3.1, S. 35 ff.). [...] Den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass eine solche Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden bisher erfolgt oder noch zu erwarten ist, sondern es wird berichtet, es seien zahlreiche Strafverfahren gegen solche Personen eingeleitet worden, die vom Militärdienst desertiert sind oder sich der Einberufung entzogen haben (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note Ukraine: Military Service, Version 4.0 April 2017, Nr. 9.2.4 ff.). [...]

31 Zwar kann nach Art. 336 UStGB eine Mobilisierungsentziehung mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden (Lagebericht 2017, Nr. 11.1.6, S. 10) und eine Strafverfolgung von Fahnenflüchtigen findet auch statt (vgl. BFA-Report, Chapter 3.3.3, S. 39). Auch Verurteilungen zu Freiheitsstrafen wegen Mobilisierungsentziehung werden berichtet, die in einzelnen Fällen auch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden (vgl. BFA-Report a.a.O. S. 39 f.; UNHCR, International Protection Considerations related to developments in Ukraine - Update III, September 2015, Nr. 34, S. 13; Anfrage des Bundesamt an das Auswärtige Amt vom 28.7.2016 [Gz. 9206-230; 7406-374/16; UKR-454]). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass in jedem konkreten Fall das Gericht die Schwere der Schuld des Betreffenden unter den aktuellen Gegebenheiten feststellt und bei Personen, die mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren, keine Freiheitsstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung verhängt werden (vgl. BFA-Report a.a.O. S. 40). [...]

32 Darüber hinaus erscheint es auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass bei der Vollstreckung einer kurzen Freiheitsstrafe eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. [...] Auch ist der Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 11. Februar 2016, Stand Januar 2016, noch davon ausgegangen, die Missstände in den Gefängnissen seien in der Regel anzutreffen. Die Änderung der Formulierung im Lagebericht 2017 legt jedoch eine spürbare Verbesserung zumindest in Haftanstalten zur Verbüßung kürzerer Freiheitsstrafen nahe. [...]

33 Angesichts dieser Auskunftslage wäre nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass dem Kläger eine unmenschliche Behandlung in Haft drohen würde. Zum einen käme wohl nur eine kurze Haftstrafe in Betracht, die in einem Gefängnis mit niederer oder mittlerer Sicherheitsstufe verbüßt werden könnte. Solche Haftanstalten weisen - wie ausgeführt - einen besseren Standard auf. Dass der Kläger in Untersuchungshaft oder Polizeigewahrsam genommen werden oder eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden würde, in denen die Zustände weit schlechter sind, ist demgegenüber nicht zu erwarten. Zum anderen haben sich die Verhältnisse in den ukrainischen Gefängnissen in den von der Regierung kontrollierten Landesteilen durch die Reform der Prozessordnung und der Gefängnisreform verbessert und die Zahl menschenrechtswidriger Verstöße ist zurückgegangen. [...]

35 III. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]