VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Beschluss vom 27.02.2018 - 5 A 79/17 - asyl.net: M26066
https://www.asyl.net/rsdb/M26066
Leitsatz:

Anwendbarkeit von § 71a AsylG / Umfang der Aufklärungspflicht bei Annahme eines Zweitantrages:

1. § 71a AsylG ist nicht europarechtswidrig.

2. Ob die Voraussetzungen eines Zweitantrages vorliegen, überprüft das Bundesamt anhand der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse (Angaben der antragstellenden Person, Antwort des angefragten Mitgliedstaates auf das Übernahmeersuchen, etc.). Ergibt sich hieraus ein vorerst stimmiges Bild, muss die antragstellende Person dieser Annahme substantiiert entgegentreten. Erst dann trifft das Bundesamt eine Pflicht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen. Eine sachgerechte Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes hat nämlich unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie zu erfolgen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Amtsermittlung, Sachaufklärungspflicht, Asylverfahrensrichtlinie, Zulässigkeit, Unzulässigkeit, neue Beweismittel,
Normen: VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, AsylG § 71a, AsylG § 26a, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. e, RL 2005/85/EG Art. 33 Abs. 2 Bst. d, RL 2005/85/EG Art. 25 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

a) Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge konnte seine in Ziffer 1) des angegriffenen Bescheides getroffenen Entscheidung auf § 71a AsylG stützen. Insbesondere stehen der Anwendung der vorgenannten Vorschrift – entgegen der Auffassung des Klägers – europarechtliche Regelungen nicht entgegen. Das Gericht hat gegen die mitgliedstaatsübergreifende Anwendung des unionsrechtlich ermöglichten Folgeantragskonzepts (vgl. Art. 32 bis 34 Asylverfahrensrichtlinie a.F. bzw. Art. 40 bis 42 Asylverfahrensrichtlinie n.F.) keine Bedenken (so auch VG München, Urteil vom 07.02.2013 – M 11 K 12.30661 –, juris, Rn. 21; a. A. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2016, § 71a Rn. 3 ff.; ausdrücklich offen gelassen vom BVerwG, Urteil vom 14.12.2016, a.a.O., Rn. 26).

Die Möglichkeit des in § 71a AsylG vorgesehenen besonderen Prüfungsverfahrens findet seine europarechtliche Grundlage in Art. 32 Abs. 2 und 3 Verfahrensrichtlinie a.F. bzw. Art. 40 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie n. F. Der dort genannte Begriff des Folgeantrages ist gerade nicht – wie nach der nationalen Terminologie – auf die Konstellation eines weiteren Asylantrages in demselben Mitgliedstaat beschränkt. Dies ergibt sich weder aus dem Wortlaut der vorgenannten Vorschriften noch aus der Regelung in Art. 32 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie a.F. bzw. Art. 40 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie n.F. Die zuletzt genannten Normen nennen zwar lediglich den Folgeantrag, der in demselben Mitgliedstaat, wie der Erstantrag gestellt wurde, stellen aber keine diesen Begriff auf die dort genannte Konstellation beschränkende Definition dar. Da der Begriff "Folgeantrag"– soweit ersichtlich – auch im übrigen Unionsrecht nicht legal definiert ist, muss seine Reichweite vielmehr durch die anerkannten juristischen Auslegungsmethoden bestimmt werden. Entsprechend des Sinn und Zwecks der unionsrechtlichen Asylregelungen ist von einem Folgeantrag auch dann auszugehen, wenn der Asylbewerber nach Stellung eines Asylantrages in einem Mitgliedstaat einen weiteren in einem anderen Mitgliedstaat stellt, da nur dies mit dem Grundgedanken eines gemeinsamen europäischen Asylsystems (vgl. Erwägungsgrund 1 Verfahrensrichtlinie a.F. bzw. Erwägungsgrund 2 Verfahrensrichtlinie n.F.) harmoniert. So werden – diesem Konzept entsprechend – die in einem Mitgliedstaat getroffenen, den Asylantragsteller begünstigende Asylentscheidungen – wie ein Umkehrschluss aus der gem. Art. 25 Abs. 2 lit. a Verfahrensrichtlinie a.F. und Art. 33 Abs. 2 lit. a Verfahrensrichtlinie n.F. eingeräumten Möglichkeit der Ablehnung eines Asylantrages bei bereits erfolgter Gewährung von Flüchtlingsschutz bzw. internationalem Schutz in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig zeigt – in den übrigen Mitgliedstaaten anerkannt (vgl. auch Erwägungsgrund 22 Verfahrensrichtlinie a.F. bzw. Erwägungsgrund 43 Verfahrensrichtlinie n.F.). Vor diesem Hintergrund erschließt es sich dem Gericht nicht, warum in dem umgekehrten Fall einer für den Asylantragsteller nicht begünstigenden – also einer den Asylantrag ablehnenden – Entscheidung in einem Mitgliedstaat, keine Anerkennung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgen und der weitere Asylantrag in dem anderen Mitgliedstaat verfahrensrechtlich wie ein Asylerstantrag behandelt werden sollte. Hinzu kommt, dass eine nicht gewünschte Sekundärmigration (vgl. Erwägungsgrund 6 Verfahrensrichtlinie a.F. bzw. Erwägungsgrund 13 Verfahrensrichtlinie n. F.) begünstigt würde, wenn derjenige, der in einem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag stellt, besser gestellt würde, als derjenige, der in demselben Mitgliedstaat einen solchen stellt. Für eine mitgliedstaatsübergreifende Anwendung des Folgeantragskonzeptes spricht zudem die Reichweite der in der Verfahrensrichtlinie eingeräumten Möglichkeiten der Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig. Sowohl Art. 25 Abs. 2 lit. f (i.V.m. Art. 2 lit. d) Verfahrensrichtlinie a.F., der von einem identischen Antrag nach rechtskräftiger Entscheidung spricht, als auch Art. 33 Abs. 2 lit. d Verfahrensrichtlinie n.F., der – entgegen der Annahme des Klägers – lediglich den Folgeantrag ohne Bezugnahme auf eine vorhandene bzw. fehlende grenzüberschreitenden Konstellation erwähnt, sind nicht auf rein nationale Sachverhalte begrenzt. Angesichts des zuletzt genannten Umstandes bestehen nach Auffassung des Gerichtes auch keine Bedenken, dass die Aufnahme der Folge- und Zweitanträge, bei denen keine Gründe für ein Wiederaufgreifen vorliegen, in den Katalog der Unzulässigkeitstatbestände des § 29 Abs. 1 AsylG bereits mit der Asylverfahrensrichtlinie a. F. vereinbar war (offen gelassen vom BVerwG, Urteil vom 14.12.2016, a.a.O.). [...]

Der Kläger hat bereits in den Niederlanden, einem sicheren Drittstaat i.S.v. § 26a AsylG, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, einen Asylantrag gestellt, den die niederländischen Behörden abgelehnt haben. Dies ergibt sich aus der schriftlichen Mitteilung der niederländischen Behörde (Immigratie- en Naturalisatiedienst) vom 05.12.2012, mit der sie der Rücknahme des Klägers unter Bezugnahme auf ihre Verpflichtung aus Art. 16 Abs. 1 lit. e der Verordnung 343/2003 (Dublin II-VO) – der die Pflicht eines Mitgliedstaates zur Wiederaufnahme eines sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag er abgelehnt hat, enthält – zugestimmt haben. Dies steht auch im Einklang mit der Aussage des Klägers in seiner Anhörung vom 22.08.2012, nach der er die Niederlande verlassen habe, nachdem sein dort gestellter Asylantrag abgelehnt worden sei.

Das Asylverfahren ist in den Niederlanden auch erfolglos abgeschlossen worden, weil das Gericht davon überzeugt ist, dass die ablehnende Entscheidung der niederländischen Behörden nicht angefochten wurde und damit bestandskräftig geworden ist. [...]

Das Gericht war auch nicht verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Das wäre nur der Fall gewesen, wenn sich eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.02.2015 – 1 B 2.15 – juris, Rn. 2). Eine sachgerechte Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes hat unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.04.2002 – 9 CN 1.01 – juris, Rn. 43). Hinreichend konkret dargelegten Einwänden eines Beteiligten ist nachzugehen und der Sachverhalt – gegebenenfalls auch unter Mitwirkung der Beteiligten – weiter aufzuklären, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.08.1983 – 8 C 76.80 – juris, Rn. 21).

Das war hier indes nicht der Fall. Es gab gerade keine substantiierten Einwände des Klägers hinsichtlich des erfolglosen Abschlusses des Asylverfahrens in den Niederlanden, sondern lediglich die rechtliche Einschätzung des Klägers, seine eigene Aussage genüge nicht für die Annahme des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass das Asylverfahren in den Niederlanden erfolglos abgeschlossen sei. Damit bestritt er den erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens in den Niederlanden nicht substantiiert, sondern beanstandete lediglich den Umstand, dass sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei dieser Frage ausschließlich auf seine Angaben verlassen und kein anderer Nachweis über den erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens vorgelegen habe.

Aber selbst wenn man darin – wovon das Gericht ausdrücklich nicht ausgeht – auch einen Einwand in tatsächlicher Hinsicht sähe, wäre dieser – gerade angesichts seines eigenen Vortrages im behördlichen Verfahren, wie soeben ausgeführt – nicht substantiiert.

Das Gericht hat auch in keiner Weise den Eindruck gewonnen, dass der Kläger den Ablauf des Asylverfahrens nicht durchschauen und damit keine verlässlichen Angaben machen könne. Vielmehr ging der Kläger hier planmäßig berechnend vor, indem er zunächst seine Asylantragstellung in den Niederlanden wahrheitswidrig verneinte und seinen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unter Angabe falscher Personalien stellte, um seine Chancen im Asylverfahren zu erhöhen. Der Kläger war nach eigenen Angaben im niederländischen Asylverfahren auch anwaltlich vertreten – hatte mithin die Möglichkeit, sich den aktuellen Verfahrensstand und die Entscheidungen der niederländischen Behörden erklären zu lassen – und ihm war klar, dass es dort zunächst um eine Rückführung nach Griechenland ging, von der dann aber abgesehen worden und über seinen Asylantrag "normal", also in der Sache, entschieden worden sei. Ihm war auch der Grund der Ablehnung seines Asylantrages – fehlende Glaubhaftigkeit in Bezug auf seine Staatsangehörigkeit – bekannt. Hinzu kommt, dass es vorliegend allein um die Frage geht, ob er gegen die in den Niederlanden getroffene Entscheidung über seinen Asylantrag rechtlich vorgegangen ist, was seine Mitwirkungshandlung – in Form einer eigenen Einlegung von Rechtsmitteln oder der Beauftragung seines Rechtsanwaltes – voraussetzt. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass er dazu keine verlässlichen Angaben machen konnte.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass nach § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO auch der Kläger bei der Aufklärung des Sachverhalts heranzuziehen ist. Es obliegt ihm im vorliegenden Fall zunächst, alle asyl- und aufenthaltsrelevanten Unterlagen vorzulegen, die er in Italien erhalten hat (insbesondere den Aufenthaltstitel und den italienischen Fremdenpass). Soweit er hierzu nicht imstande ist oder diese Unterlagen keinen hinreichenden Aufschluss über die hier zu klärende Frage geben, hat er auch sonst alles ihm Zumutbare zu unternehmen, um weitere Aufklärung zu schaffen oder zu ermöglichen. Soweit ein Beteiligter ihm abverlangte Mitwirkungshandlungen nicht nachkommt, ist eine solche Weigerung bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.11.2017 – 1 C 39.16 –, juris, Rn. 28). Hier hat der Kläger weder im behördlichen Verfahren den schriftlichen Anhörungsbogen vom 09.05.2016 ausgefüllt an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zurückgesandt noch erschien er zur mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Verfahren, um an der weiteren Sachverhaltsaufklärung, die durch seine informatorische Befragung beabsichtigt war, mitzuwirken. [...]