VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 12.02.2018 - 5 A 415/17 HAL - asyl.net: M26109
https://www.asyl.net/rsdb/M26109
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für afghanische Frau wegen westlicher Prägung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, westliche Prägung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Aufgrund der derzeitigen Erkenntnismittel geht das Gericht davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG), ausgesetzt sein können (vgl. Nds. OVG a.a.O.). Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen (vgl. Nds. OVG a.a.O.).

Zwar hat sich die Situation afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft verbessert (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016, S. 13). Die Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen blieben jedoch Berichten zufolge marginal und Afghanistan wird weiterhin als "sehr gefährliches" Land für Frauen und Mädchen betrachtet (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 65 ff.). Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibt endemisch. Berichten zufolge ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor weit verbreitet und nimmt weiter zu. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte üblicherweise straffrei bleiben. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf (s. zu diesem Absatz UNHCR a.a.O.). Des Weiteren werden Personen, welche in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte verstoßen haben, Berichten zufolge von den Taliban getötet, angegriffen und bedroht (vgl. UNHCR a.a.O. S. 63).

Bei der Klägerin sind die Voraussetzungen für eine o.g. Verfolgung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe unter Berücksichtigung der hier zu beachtenden Einzelfallumstände zu bejahen, da ihr infolge des erlangten Grades ihrer westlichen Identitätsprägung jedenfalls nicht zugemutet werden kann, sich den in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.

Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klägerin die in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen gar nicht persönlich kennengelernt hat, da sie 1992 im Iran geboren wurde und sich noch nie in ihrem Leben in Afghanistan aufgehalten hat. Sie konnte jedenfalls die aktuellen Gewohnheiten in Afghanistan auch nicht durch ihre afghanische Familie erfahren, da ihre Mutter bereits mit sieben Jahren und ihr Vater vor über 30 Jahren aus Afghanistan in den Iran ausgereist sind und sie glaubhaft in der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass sie auch über keine ihr bekannten Verwandten in Afghanistan verfügt.

Darüber hinaus hat die Klägerin durch ihr äußeres Erscheinungsbild und insbesondere ihr Auftreten in der mündlichen Verhandlung für das Gericht glaubhaft den Eindruck vermittelt, dass sie zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung durch ihre Vergangenheit und insbesondere ihren nunmehr über zwei Jahre andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet eine derartige Prägung erfahren hat, dass es ihr jedenfalls infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht zugemutet werden kann, bei einer erstmaligen Einreise in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.

Die Klägerin verfügt mit dem im Iran erworbenen Abitur über eine weit überdurchschnittliche Bildung, welche bei den Frauen in Afghanistan nur äußerst selten anzutreffen ist, weshalb sie bereits aus diesem Grund auffällig wäre. Darüber hinaus gab die Klägerin bereits in der Anhörung vor dem Bundesamt am 18. Oktober 2016 an, dass sie auch studieren möchte, was der in Afghanistan üblichen Rolle der Frau als Hausfrau weiter widerspricht Die Klägerin machte auch durch das fehlende Tragen eines Kopftuches und ihre übrige Kleidung in der mündlichen Verhandlung, welche sich in keiner Weise von deutschen Frauen unterschied, deutlich, dass sie sich den hiesigen Lebensgewohnheiten angepasst hat. Die Klägerin wirkte bei ihrem Auftreten und ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig und es bestand kein Grund zu der Annahme, dass sie sich für die mündliche Verhandlung besonders gekleidet hätte.

Vor allem aber vermittelte die Klägerin am Ende der mündlichen Verhandlung durch ihre spontanen und umfassenden Angaben den glaubhaften Eindruck, dass sie nunmehr keine Schiitin mehr sei, sondern keinen Glauben mehr habe und Ansichten vertritt, die dem üblichen afghanischen Frauenbild sehr deutlich entgegenstehen. Nach Befragung zu ihrem Verfolgungsschicksal und nach Stellung der Anträge durch ihren Rechtsanwalt hat die Klägerin von sich aus angefangen, auf ihre nunmehr fehlende Religion hinzuweisen. Sie gab hiernach an, dass aus ihrer Sicht Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollten. Sie führte aus, dass sie im Iran keine Fragen stellen konnte und nicht sagen konnte, dass sie keine Muslimin sein. Sie möchte aber denken können und frei sei. Der Islam sei nicht ihre Meinung und sie möchte kein Buch, dass ihr eine Meinung vorschreibe. Sie möchte auch nicht heiraten. Durch die Art und Weise dieser und weiterer Angaben war das Gericht davon überzeugt, dass diese Ausführungen nicht aus asyltaktischen Gründen erfolgten, sondern dieser spontane Ausbruch ihrer Gedanken ihre tatsächlichen und ernsthaften Überzeugungen widerspiegelte. Durch ihre bereits sehr guten Deutschkenntnisse wies sie überdies ihren überdurchschnittlichen Bildungsstand nach, da die vorgenannten Ausführungen und auch ihre gesamte vorherige Befragung in der mündlichen Verhandlung in deutscher Sprache erfolgten und sie nur bei wenigen Worten die Hilfe des Dolmetschers in Anspruch nahm.

Durch die zuvor dargestellte eigene Meinungsbildung und ihre selbstbewusste Meinungsäußerung hat die Klägerin gezeigt, dass sie sich westlichen Anschauungen angeschlossen hat und nicht den Traditionen und Gebräuchen des Islam unterworfen ist, wie er in Afghanistan praktiziert wird. Durch die von ihr getätigten Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt und vor allem bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass ihre Ausführungen ihre tatsächliche westlich geprägte offene Lebenseinstellung und Lebensweise wiedergeben.

Aus diesen Gründen hält es das Gericht für unzumutbar, die Klägerin zu zwingen, sich nunmehr einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben und würde dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt (vgl. Nds. OVG im Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 - Juris). Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimat unweigerlich wieder auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in Ihrer Kumulation einer schweren Menschenrechtsverletzung gleichkämen (vgl. Nds. OVG a.a.O.).

Gründe, weiche der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen, sind bei der Klägerin nicht ersichtlich. Insbesondere zeigt sich nicht, dass der Klägerin die in § 3d AsylG (s.o.) genannten Akteure Schutz vor der ihr drohenden Verfolgung bieten können. Denn die afghanischen staatlichen Akteure aller drei Gewalten sind entweder nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte in Afghanistan zu schützen (vgl. Nds. OVG a.a.O. m.w.N.).

Der Klägerin steht auch keine interne Fluchtalternative i.S.d. § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Nach Auffassung des Gerichts besteht Im gesamten Staat Afghanistan kein relevanter Zufluchtsort, der der Klägerin ausreichend Schutz vor einer Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu der o.g. bestimmten sozialen Gruppe bietet. Denn die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts eine derart nachhaltige westliche Prägung erfahren, dass sie auch in weniger konservativen Landesteilen der Islamischen Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. Nds. OVG im Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 - Juris). Dies gilt umso mehr, als die Klägerin noch nie in diesem Land gelebt hat und mit den dortigen strengen Verhaltensregeln für Frauen zuvor noch nie konfrontiert war. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die in den o.g. Erkenntnismitteln geschilderte Diskriminierung von afghanischen Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten In Afghanistan verstoßen, gerade nicht nur einen Teil von Afghanistan betrifft, sondern für das gesamte Land anzunehmen ist, auch wenn diese in ländlichen Gebieten nochmals verstärkt festzustellen ist. [...]