Subsidiärer Schutz für eine Afghanin wegen Gefahr der Blutrache. Einer Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens im Iran verbracht hat, ist es nicht möglich, in Afghanistan eine Existenzgrundlage zu finden. Aus diesem Grund besteht für sie auch keine inländische Fluchtalternative.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1, 8 AufenthG zu. [...]
Der Klägerin droht auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung in Afghanistan. [...]
Nach dem vorgenannten Maßstab sind unter Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel keine Anhaltspunkte für eine derartige Gruppenverfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure allein wegen der Zugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Hazara und der schiitisch-islamischen Religion zu erkennen. Die Verfolgungshandlungen, denen die Hazara ausgesetzt sind, weisen in Afghanistan jedenfalls nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte auf.
Die schiitische Minderheit der Hazara stellt mit einem Anteil von 10 Prozent der Bevölkerung eine religiöse Minderheit in Afghanistan dar, welche zwar weiterhin diskriminiert wird. Die Lage für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich jedoch erheblich verbessert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21. Januar 2016, S. 171). Gesellschaftliche Diskriminierung gegen die schiitischen Hazara mit Bezug auf Klasse, Ethnie und Religion hält jedoch weiter an in Form von Erpressung, durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, physische Misshandlung und Verhaftung (BFA a.a.O. S. 172, sowie UNHCR vom 19. April 2016 - Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender). In jüngerer Zeit stiegen Berichten zufolge die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR a.a.O.). Seit dem Ende des Taliban-Regimes im Jahre 2001 haben die Hazara Berichten zufolge jedoch erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht (UNHCR a.a.O.). Schiitischen Muslimen ist es allgemein möglich, ihre traditionellen Feierlichkeiten und Rituale ohne Hindernisse öffentlich durchzuführen (BFA a.a.O. s. 163). Zwar ist die schiitische Minderheit weiterhin mit Diskriminierung konfrontiert, nach den Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul sind Hazara indes entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (BFA a.a.O.). Der letzte große Zwischenfall in Gestalt eines Selbstmordattentates auf eine heilige Stätte der Hazara in Kabul ereignete sich 2011 und liegt damit bereits circa 6 Jahre zurück (vgl. BFA a.a. O.). Die politischen Kräfte des Landes zeigten sich über diesen Vorfall erschüttert und verurteilten diesen und riefen zur Einigkeit auf (BFA a.a.O.). [...]
Nach Würdigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ist das Gericht bei Anwendung des oben genannten Maßstabes der Überzeugung, dass Hazara in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung unterliegen, derzeit und in überschaubarer Zukunft aber keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung ausgesetzt sind. So wird eine politische oder religiöse Verfolgung durch die derzeitige Regierung in den vorliegenden Erkenntnismitteln übereinstimmend verneint. Auch die berichteten Nachstellungen durch regierungsfeindliche Gruppierungen einschließlich der Taliban erreichen bei der Anzahl der Rechtsverletzungen im Verhältnis zur Gesamtzahl dieser Gruppe nicht die Schwelle, ab der eine Verfolgungsdichte anzunehmen ist.
Die Voraussetzungen für die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG liegen jedoch vor. [...]
Der Klägerin droht bei Rückkehr nach Kabul Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Cousins ihres Ehemannes.
Die Klägerin hat durch ihren Vortrag im Asyl- und im hiesigen Klageverfahren zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach dem oben genannten Maßstab glaubhaft gemacht, dass bei ihrer Rückkehr nach Kabul tatsächlich ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Cousins ihres Mannes droht. […]
Der Verweis der Beklagten auf die lange Zeit, die zwischen dem Auslöser der befürchteten Blutrache in Gestalt des Vorwurfs gegenüber ihrem Ehemann, einen seiner Cousins getötet zu haben, und den neuerlichen Bedrohungen liegt, ist nicht geeignet, die Angaben der Klägerin zu ihrer Bedrohungslage unglaubhaft erscheinen zu lassen. Denn Blutfehden können in Afghanistan zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 91). Die Rache kann sich unter Umständen auch Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen (s. UNHCR a.a.O.). Je nach den Einzelfallumständen können auch Familienangehörige oder Partner von an Blutfehden beteiligten Personen aufgrund ihrer Verbindung zur unmittelbar betroffenen Person gefährdet sein (vgl. UNHCR a.a.O.). Letzteres ist hier anzunehmen, da die Klägerin glaubhaft geschildert hat, dass die Cousins auch mit der Tötung der Familie ihres Ehemannes gedroht haben. [...]
Der Klägerin droht in Gestalt der Cousins ihres Ehemannes eine Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur, vor denen weder der afghanische Staat, noch eine andere nationale oder internationale Organisation ausreichend Schutz vor Verfolgung bietet (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Denn die großen und grundlegenden Einschränkungen der Schutzfähigkeit des afghanischen Staates in Gestalt der Machtlosigkeit gegenüber vielfältigen Bedrohungen werden beispielsweise sichtbar durch den systematischen Machtmissbrauch durch afghanische Sicherheitsorgane und mächtige politische Eliten. Des Weiteren herrscht in Afghanistan ein Klima der Straflosigkeit (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, vom 19. April 2016, S. 28; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30. September 2016, S. 15). So bleibt auch die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen üblicherweise straflos; staatlicher Schutz ist für Frauen insoweit nicht zu erlangen (vgl. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, vom 19. April 2016, S. 66, 69; BT-Drs. 18710336, 18. Wahlperiode 16.11.2016, Frage Nr. 28).
Der Klägerin steht bei der drohenden Verfolgung durch die Cousins ihres Ehemannes auch keine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 e AsylG zur Verfügung. [...]
Der Klägerin ist es bereits aus humanitären Gründen nicht zumutbar, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan anzusiedeln und dort ihr Existenzminimum erwirtschaften zu können. [...] Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es nur alleinstehenden leistungsfähigen Männern und verheirateten Paaren im berufsfähigen After auch ohne externe Unterstützung abhängig von den jeweiligen Einzelfallumständen möglich ist, in Afghanistan Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und Erwerbsmöglichkeiten zu erlangen (vgl. hierzu UNHCR vom 19. April 2016 - Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 99). Bei der Klägerin handelt es sich indes um eine fast 50 Jahre alte alleinstehende Frau, da sich ihr Ehemann nach wie vor im Iran aufhält. Die Klägerin verfügt nach ihren glaubhaften Angaben in Afghanistan auch über keine Verwandte mehr, welche ihr bei einer Neuansiedlung behilflich sein könnten.
Darüber hinaus bestehen für die Klägerin weitere erhebliche Erschwernisse für den Zugang zu den elementaren Bedürfnissen in Afghanistan. Sie hat keine Schulbildung erworben, sondern nur zwei bis drei Jahre Kurse für Analphabeten besucht. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Klägerin noch erhebliches Vermögen in Deutschland oder Afghanistan für die Gewährleistung ihres Existenzminimums zur Verfügung steht oder sie auf andere Weise als durch Erzielung von Erwerbseinkommen ihre Existenz in Afghanistan sichern könnte.
Durch ihren mangelnden vorherigen Aufenthalt in Afghanistan ist eine Eingliederung in die afghanische Gesellschaft und damit das Erreichen des Existenzminimums für sie auch deshalb erheblich schwerer, da sie nicht mit den Verhältnissen in Afghanistan vertraut ist. Denn sie ist bereits im Kindesalter aus Afghanistan in den Iran ausgereist. Nach einem langjährigen Aufenthalt im Ausland sind die Rückkehrer Fremde im eigenen Land und verfügen insbesondere zumeist nicht über bestehende soziale Netzwerke, um ihr Existenzminimum zu sichern (vgl. hierzu ACCORD vom 12. Juni 2015 - Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen; Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren). Die Kenntnisse der aktuellen Verhältnisse in Afghanistan konnte die Klägerin insbesondere auch nicht durch ihre Eltern erlangen, da diese damals mit ihr gemeinsam aus Afghanistan ausgereist und mittlerweile verstorben sind.
Des Weiteren wird die Eingliederung der Klägerin in die afghanische Gesellschaft weiter durch deren Volkszugehörigkeit zu den Hazara erschwert. Die Lage der Hazara hat sich zwar nach den o.g. Erkenntnismitteln erheblich verbessert. Jedoch ist nach wie vor von einer Diskriminierung der schiitischen Minderheit der Hazara in Afghanistan auszugehen (s.o.), was eine Neuansiedlung der Klägerin in Afghanistan noch weiter erschwert.
Schließlich steht die Eigenschaft der Klägerin als alleinstehende Frau in besonderem Maße einer Neuansiedlung in Afghanistan entgegen. Denn Afghanistan ist weiterhin ein sehr gefährliches Land für Mädchen und Frauen (vgl. Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 24. Mai 2016 zur besonderen Gefährdung von Frauen in Afghanistan). Tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen ist in Afghanistan endemisch. Gewalt gegen Frauen und Mädchen bleibt weit verbreitet und nimmt zu, wobei Straflosigkeit für solche Verbrechen die Regel sei. Frauen begegnen weiterhin großen Herausforderungen beim vollen Zugang zu ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Trotz Fortschritten sind sie weiterhin überdurchschnittlich von Armut, Analphabetismus und ungenügendem Zugang zu Gesundheitsdiensten betroffen. Die Umsetzung von Gesetzen zum Schutz von Frauenrechten geht laut Beobachtern nur sehr langsam vorwärts. Dies betrifft besonders die Umsetzung des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Den Behörden fehlt der politische Wille, das Gesetz umzusetzen und sie setzten es besonders in ländlichen Gebieten nicht vollständig durch (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O.).
Schutz können Frauen in größeren Städten theoretisch zwar in Frauenhäusern finden, diese verfügen jedoch nicht über ausreichend Plätze (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30. September 2016, S. 18); auch ist ein Leben außerhalb im Anschluss regelmäßig nicht mehr möglich (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016, S. 15). Geschlechtsspezifische Gewalt gehört zu den häufigsten Gründen für Selbstmord und Selbstverbrennung bei Frauen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, vom 19. April 2016, S. 68). Das Justizsystem funktioniert in Afghanistan nur sehr eingeschränkt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 5). [...]