VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 27.02.2018 - 3 K 5977/17 - asyl.net: M26121
https://www.asyl.net/rsdb/M26121
Leitsatz:

Die Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft wirkt integrationshemmend und widerspricht damit dem eigentlichen Ziel der Wohnsitzregelung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnsitzregelung, anerkannter Flüchtling, Ermessen, Ermessensfehler, Integration, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, Wohnsitzauflage, Wohnsitzverpflichtung,
Normen: AufenthG § 12a,
Auszüge:

[…]

(aa) § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG enthält für die Ausübung des durch diese Vorschrift eröffneten Ermessens mehrere Direktiven. Danach kann die Wohnsitzverpflichtung zu seiner (d.h. des Betroffenen) Versorgung mit angemessenem Wohnraum angeordnet werden, wenn dies seiner (d.h. des Betroffenen) nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegensteht. Die Verpflichtung hat sich dabei auf einen "bestimmten Ort" zu beziehen.

Schon aus der - in der Vorschrift mehrfach verwendeten - Formulierung "seiner" dürfte folgen, dass grundsätzlich die individuellen Belange des Betroffenen - namentlich seine persönlichen Integrationsleistungen und -bedürfnisse - bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind, während eine pauschale Handhabung allein unter Hinweis auf die gleichmäßige Auslastung von Integrationskapazitäten wohl allenfalls zur Regelung kurzer (Übergangs-)Zeiträume ermöglicht wird. Ob die Förderung der nachhaltigen Integration des Betroffenen in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland - mit dem Wortlaut des § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG - der Verpflichtung lediglich "nicht entgegenstehen" darf oder ob die Wohnsitzauflage - wie der Antragsteller meint - mit Blick auf Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 01.03.2016 - C-443/14 und C-444/14 – (Alo und Osso), juris) die Integration erleichtern muss (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage (2018), AufenthG § 12a Rn. 31: erfolgreiche Integration als notwendiges "Hauptmotiv"), bedarf hier keiner Entscheidung, weil die Ermessenserwägungen des Antragsgegners - wie noch darzulegen ist - wohl in jedem Fall unzureichend ausgefallen sind.

Für die Konkretisierung des "bestimmten Ort(es)" durch die jeweilige Auflage schließlich dürfte Folgendes gelten: Der Wortlaut gibt keinen Aufschluss darüber, ob die Anordnung der Behörde sich lediglich auf eine bestimmte Region (z.B. einen Landkreis, eine Kommune oder einen Stadtbezirk, vgl. zu derartigen Regelungen etwa Bayer. VGH, Beschluss vom 09.01.2018 - 19 CS 17.1838 - (Landkreis); VG Bayreuth, Beschluss vom 15.03.2017 - B 4 S 17.66 - (Landkreis); VG Köln, Urteil vom 14.11.2017 - 5 K 2256/17 - (Gemeinde); alle juris) beziehen oder ob sie den Betroffenen auch zur Wohnsitznahme an einer bestimmten Adresse oder sogar in einer bestimmten Unterkunft verpflichten darf; die Vorschrift ist insoweit auslegungsoffen.

Systematisch ist aber zu berücksichtigen, dass § 12a Abs. 1 AufenthG zunächst die Aufteilung zwischen den Ländern betrifft, während § 12a Abs. 2 AufenthG im Anschluss daran die weitere "Verteilung innerhalb des Landes" regelt (vgl. ausdrücklich auch § 12 Abs. 9 Nr. 1 AufenthG; zur systematischen Struktur insoweit auch Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage (2018), AufenthG § 12a Rn. 26). Dies spricht dafür, dass die Verpflichtung sich grundsätzlich eher auf Regionen zu beziehen hat. Auch der Antragsgegner begründet die Entscheidung, dass in Baden-Württemberg grundsätzlich von der Wohnsitzauflage Gebrauch gemacht werde, im Anschluss an die "Vorläufigen Anwendungshinweise" des Ministeriums mit einem regionalbezogenen Argument, dass nämlich Integrationskapazitäten vor allem in ländlichen Gebieten nicht ungenutzt bleiben und Segregationsrisiken in Ballungsräumen minimiert werden sollten.

Der Zweck der Vorschrift - die "Versorgung mit angemessenem Wohnraum" - lässt sich darüber hinaus anhand der Gesetzesmaterialien näher konkretisieren (vgl. VG Bayreuth, Beschluss vom 15.03.2017 - B 4 S 17.66 -, Rn. 21 ff., juris). Die amtliche Begründung zum ursprünglichen Entwurf des § 12a Abs. 2 AufenthG (BTDrs. 18/8615, S. 45) lautet insoweit:

"Absatz 2 ermöglicht es den Landesbehörden, vorübergehenden und damit per se integrationshemmenden Wohnverhältnissen in Aufnahmeeinrichtungen nach § 44 AsylG oder anderen vorübergehenden Unterkünften innerhalb kurzer Frist abzuhelfen. Der integrationspolitische Mehrwert der Regelung nach Absatz 2 liegt daher in der Schaffung der in dieser Situation vordringlichen Grundlage für erfolgreiche Integration, nämlich einer regulären Wohnunterbringung in der Aufnahmegesellschaft."

Aus dieser Begründung geht eindeutig hervor, dass die Wohnsitzauflage es ermöglichen soll, die als "per se integrationshemmend" angesehenen Wohnverhältnissen in u.a. vorübergehenden Unterkünften möglichst zeitnah zu beenden und für die Betroffenen kurzfristig "reguläre" Wohnverhältnisse als vordringliche Grundlage für eine erfolgreiche Integration zu schaffen. Dieser Konzeption entsprechend, sah der ursprüngliche Gesetzesentwurf auch explizit (nur) die Verpflichtung des Betroffenen vor, "an einem anderen Ort" Wohnsitz zu nehmen als dort, wo er bisher (nämlich in der vorübergehenden Unterkunft) wohnt (vgl. hierzu Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage (2018), AufenthG § 12a Rn. 28: "Vermutung zugunsten einer Integrationsförderung durch Umzug"). Das Ziel, möglichst schnell reguläre Wohnverhältnisse für einen Schutzbedürftigen zu schaffen, spiegelt sich auch im endgültigen Wortlaut des § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wider, denn die Verpflichtung ergeht "zu seiner Versorgung mit angemessenem Wohnraum", wobei der Begriff "angemessener Wohnraum" einen höheren Standard bezeichnen dürfte als "ausreichender Wohnraum" etwa im Sinne des § 2 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (Zühlcke, HTK-AuslR / § 12a AufenthG / zu Abs. 2, 09/2017, Nr. 2). Erst im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat der Gesetzestext dann seine geltende Fassung erhalten, wonach die Verpflichtung zur Wohnsitznahme sich nicht auf einen "anderen", sondern einen "bestimmten" Ort beziehen muss. Zum Hintergrund dieser Änderung lässt sich der entsprechenden Ausschussdrucksache (BT-Drs. 18/9090, S. 24) entnehmen:

"Durch die Anknüpfung an einen bestimmten anstelle eines anderen Ortes wird klargestellt, dass eine Versorgung mit regulärem Wohnraum nicht zwingend an einem anderen Ort erfolgen muss, sofern die Grundlage für eine gelingende Integration auch mit der vorhandenen Unterbringung erreicht werden kann. Maßgeblich ist die erforderliche Behebung integrationshemmender vorübergehender Unterbringung. Dies kann auch am Ort der vorhandenen Unterkunft erfolgen, sofern sie den Anforderungen genügt (ggf. nach baulicher Umgestaltung)."

Selbst wenn der Gesetzgeber danach auch die Verpflichtung zur Wohnsitznahme am Ort der bisherigen Unterkunft ermöglichen wollte und eine Wohnsitzauflage hinsichtlich einer bestimmten Unterkunft im Ergebnis wohl als zulässig anzusehen ist, dürfte es sich bei einer solchen Verpflichtung aber -- gemessen an der weiterhin erkennbaren Zielsetzung, die Betroffenen schnellstmöglich in regulären Wohnverhältnissen unterzubringen - um einen begründungsbedürftigen Ausnahmefall handeln. Eine Zuweisung am bisherigen Ort im Sinne von bisheriger "Anschrift" oder gar "Unterkunft" dürfte folglich nur dann in Betracht kommen, wenn damit - aufgrund der spezifischen Beschaffenheit der Unterkunft - zugleich die Schaffung regulärer Wohnverhältnisse verbunden ist, die zur bezweckten "Behebung integrationshemmender vorübergehender Unterbringung" führt (vgl. Zühlcke, HTK-AuslR 1 § 12a AufenthG / zu Abs. 2, 09/2017, Nr. 2); eine Wohnsitzverpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung oder anderen (bloßen) vorübergehenden Unterkunft auf der Grundlage des § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG dürfte hingegen ausgeschlossen sein (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage (2018), AufenthG § 12a Rn. 30: "allenfalls nach einer Umwidmung nach erfolgten baulichen Änderungen, die den Charakter der Unterkunft nachhaltig verändern").

(bb) Nach diesen Maßstäben erweist sich die vom Antragsgegner getroffene Entscheidung voraussichtlich unter mehreren Gesichtspunkten als ermessensfehlerhaft:

Zweifelhaft ist erstens bereits, ob der Antragsgegner überhaupt. Ermessen im Hinblick auf die Person des Antragstellers ausgeübt hat. Schon die Formulierung des Bescheids "sind Sie ... zu verpflichten" unter Bezugnahme auf die "Vorläufigen Anwendungshinweise" des Ministeriums lässt darauf schließen, dass sich die Behörde hier an den Erlass gebunden fühlte; nach dessen Ziff. IV.2.4 "verfügt" die Behörde bei Personen im Sinne des § 12a Abs. 2 AufenthG, die sich in der vorläufigen Unterbringung befinden, bis zur Bestimmung der aufnehmenden Kommune eine "befristete Wohnsitzauflage für die vorläufige Unterbringung [...]" (Hervorhebung nur hier). Auch in der Argumentation hat die Behörde die Anwendungshinweise streckenweise wörtlich übernommen, während die Begründung individuelle Gesichtspunkte wie den Umstand, dass es sich bei der vorläufigen Unterbringung hier gerade um eine Gemeinschaftsunterkunft handelt, unberücksichtigt lässt.

Mit dieser Argumentation dürfte der Antragsgegner - zweitens - sein Ermessen in einer nicht zweckentsprechenden Weise ausgeübt haben. Denn mit einer derart pauschalen Zuweisung in die (bisherige) Gemeinschaftsunterkunft wird der oben dargestellte Zweck der Ermächtigungsgrundlage in sein Gegenteil verkehrt, d.h. nicht zeitnah Abhilfe für die "per se integrationshemmende" vorübergehende Unterbringung geschaffen, sondern diese gerade perpetuiert; besonders deutlich zeigt sich dies im vorliegenden Fall, in dem die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Gemeinschaftseinrichtung später sogar noch verlängert wurde.

Drittens hat der Antragsgegner auch im gerichtlichen Verfahren nicht begründet, weshalb die Unterbringung - ausgerechnet - in der Gemeinschaftsunterkunft zur Erreichung des von ihm angeführten Zwecks erforderlich ist. Nachdem die Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft sogar vom Gesetzgeber als "per se integrationshemmend" angesehen wird, dürfte bei einer abweichenden Wertung der Behörde eine Begründung dafür geboten sein, weshalb sie - entgegen dieser Vermutung - der nachhaltigen Integration des Betroffenen im Sinne des § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Einzelfall nicht entgegensteht. Eine solche Begründung enthält der angefochtene Bescheid indes nicht, und es ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, dass damit angesichts einer etwaigen spezifischen Beschaffenheit der Gemeinschaftsunterkunft eine Überführung in reguläre Wohnverhältnisse erzielt würde.

Soweit der Antragsgegner schließlich - viertens - damit argumentiert, die Auflage diene gleichsam "mittelbar" den Integrationschancen jedes Betroffenen, weil damit eine gleichmäßige Auslastung der Integrationskapazitäten erreicht und Segregationsrisiken minimiert würden, dürfte eine Zuweisung ausgerechnet in die Gemeinschaftsunterkunft auch nicht erforderlich sein. Denn es ist nicht ersichtlich, dass hierzu eine vorläufige Beschränkung auf die Kommune oder Region, der der Betroffene bisher zugewiesen war, als milderes Mittel nicht ebenso ausreichen könnte (vgl. zu einer solchen Differenzierung auch Bayer. VGH, Beschluss vom 09.01.2018 - 19 CS 17.1838 -, Rn. 10, juris). Dass eine selbstbestimmte Wohnsitznahme die Gefahr begründete, dass "das Anliegen des Integrationsgesetzes unterlaufen wird und dadurch Ihre nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gefährdet wird", wie der Antragsgegner unter Zitierung der "Vorläufigen Anwendungshinweise" argumentiert, leuchtet nicht ein. Diesem Ziel ließe sich nämlich auch begegnen, indem dem Betroffenen z.B. auferlegt würde, seinen Wohnsitz innerhalb eines solchen Gebiets zu nehmen. [...]